Der Pathologe
wunderschön, meine Sally. Die Männer haben ihr immer nachgeschaut. Zu Hause habe ich Fotos von ihr. Eines Tages zeige ich sie Ihnen. Aber dieser Mann …«
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Jeremy.
»In polizeilicher Hinsicht nichts, mein Sohn. Vielleicht wäre er heutzutage, bei all der Technologie, die wir jetzt haben, verhaftet worden. Aber damals …« Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Sie haben es einfach so hingenommen?«
»Zu der Zeit war ich zu schwach, um zu reagieren. Alles, wofür ich gearbeitet hatte, war mir genommen worden, einfach so.« Arthur schniefte. Blinzelte. Sein Bart zitterte. »Meine Kinder waren so lieb, Jeremy. Meine Frau war wunderschön, und meine Kinder waren wundervoll.«
Er zog das Einstecktuch aus Seide heraus und betupfte sich die Augen.
»Es tut mir Leid«, sagte Jeremy.
»Vielen Dank.« Arthur steckte das Seidentuch wieder in seine Brusttasche. »Zwei Monate, nachdem mir meine Familie genommen wurde – dreiundsechzig Tage, um genau zu sein –, wurde der Hilfsarbeiter hier in die Notaufnahme gebracht. Darmverschlingung – eins dieser Dinge, die schon mal vorkommen. Er wurde behandelt, aber ohne Erfolg. Er bekam Wundbrand in den Eingeweiden, und innerhalb von drei Tagen war er tot. Ich hab ihn nicht mehr lebend zu Gesicht bekommen. Allerdings bekam ich die Gelegenheit, bei der Autopsie zu assistieren.«
»Von innen verrottet. Wie passend.«
Arthur langte über den Tisch und packte Jeremy am Ärmel. »Es fühlte sich richtig an. Dass er auf diese Weise gestorben ist, schien mir die angemessenste Sache der Welt zu sein. Erst Jahre später, als ich andere Leute kennen lernte, die sich in meiner Lage befanden, begriff ich die große Wahrheit, die dahinterstand.«
»Zweckdienlichkeit siegt über Tugend?«, sagte Jeremy.
»Tugend ist göttlich, aber nicht auf Gott beschränkt. Es ist etwas, das Er uns zukommen lässt. Etwas, mit dem wir gewissenhaft umgehen müssen.«
»Das Schwert des Krieges kommt auf die Welt, wenn die Gerechtigkeit ausbleibt«, sagte Jeremy.
Arthur zog seine Hand zurück. Seine herrliche Bräune hatte ihren Glanz eingebüßt. Er sah alt aus.
»Möchten Sie noch etwas Tee haben, Arthur?«
»Ja, bitte.«
Jeremy holte ihm eine Tasse, sah zu, wie er trank. »Haben Sie die Kraft für weitere Fragen?«
Arthur nickte.
»Ich möchte mehr über Edgar Marquis wissen. Ich weißüber Kurau Bescheid, aber nichts über seine persönliche Verwicklung in den Fall. War es einfach eine politische Angelegenheit?«
Arthur schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Edgars Geschichte muss er selbst erzählen. Ich kann Ihnen allerdings sagen, dass Edgar sein Privatvermögen in den Bau eines Kinderkrankenhauses auf der Insel gesteckt hat. Für Babys und Kleinkinder, die andernfalls vielleicht zugrunde gegangen wären. Antisepsis und richtige Medikamente, gut ausgebildete Krankenschwestern. Edgar hat das alles auf die Beine gestellt. Im Verlauf der Unruhen wurde alles zerstört.«
Er griff nach der Aktentasche auf dem Boden.
»Wenn wir gewissenhaft mit dem umgehen, was Gott uns zukommen lässt«, sagte Jeremy, »geht es manchmal etwas unschön zu. Mit Michael Srivac zum Beispiel. Er war ein Bauunternehmer in Robert Ballerons Wohnort. Sein schärfster Konkurrent. Niemand wurde im Mordfall Balleron verhaftet, aber mehrere Monate später starb Srivac bei einem Autounfall, an dem kein anderes Fahrzeug beteiligt war. Ein merkwürdiger Unfall nach meinen Informationen. Die Bremsen an seinem Wagen haben einfach versagt, obwohl das Auto zwei Tage vorher in der Werkstatt war.«
»Das ist keine Überraschung«, erwiderte Arthur. »Im Zweiten Weltkrieg sind mehr Militärflugzeuge kurz nach umfangreichen Wartungsarbeiten abgestürzt als zu jeder anderen Zeit.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Gott diesen Mann ganz allein erledigt hat?«
»Tinas Geschichte …«
»Muss sie selbst erzählen«, sagte Jeremy. »Das Gleiche gilt für Shadley Renfrew, stimmt’s? Seine Frau wurde vor zweiunddreißig Jahren ermordet. Die Indizien wiesen darauf hin, dass sie einen Einbrecher überrascht hatte. Der Verdacht fiel auf einen aktenkundigen Verbrecher – einen Fassadenkletterer. Aber wegen unzureichender Beweise wurde ihm nie der Prozess gemacht. Sechs Monate später wurde seine Leiche am Nordstrand angetrieben.«
»Shadley war ein bemerkenswerter Mann«, sagte Arthur. »Mit einem umfangreichen Gedächtnis und einem guten Blick für Details. Ein wunderbarer irischer Tenor. Er hat
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