Kill for Fun: Gnadenlose Geschichten (German Edition)
TRIAGE
1
Fast Feierabend. Die letzte Stunde zog sich immer endlos in die Länge, besonders freitags.
Sharon sah auf die Uhr, die über der Bürotür hing.
Noch zehn Minuten. Zehn lange, lange Minuten. Dann endlich Freiheit. Wochenende.
Wäre Mr. Hammond nicht da gewesen, was öfter vorkam, hätten sich die anderen schon längst verzogen. Aber man ging natürlich nicht früher nach Hause, wenn der Chef es mitbekam.
Sharon wäre ohnehin nicht früher gegangen. Sie wurde für einen vollen Arbeitstag bezahlt, also arbeitete sie auch den vollen Tag. Im Gegensatz zu Susie, Kim und Leslie, die sich in Abwesenheit von Mr. Hammond längst verdrückt hätten.
Sharon mochte es am liebsten, wenn sie das Büro für sich allein hatte.
Susie, Kim und Leslie fand sie zwar nicht total unmöglich, hielt sie jedoch für ziemlich typische Angestellte: kompetent, aber nicht sonderlich ehrgeizig; in der Regel freundlich, wenn sie nicht gerade spitze Bemerkungen machten; ständig am Jammern über alle möglichen Kleinigkeiten und hauptsächlich mit ihren Haaren und Nägeln beschäftigt.
Mr. Hammond, der sich mit einer Mandantin in sein Büro zurückgezogen hatte, konnte nicht sehen, dass Susie lavendelfarbenen Lack auf ihre Nägel auftrug, während die letzten Minuten vor Feierabend verstrichen. Oder dass Leslie ihren Lippenstift in einem Klappspiegel kontrollierte. Oder dass Kim am Telefon plauderte, vermutlich mit einem ihrer diversen Freunde.
Sie machen diesen Job schon viel länger als ich, dachte Sharon.
Bevor ich’s überhaupt mitbekomme, fange ich wahrscheinlich selbst an, mir fünf Zentimeter lange Nägel wachsen zu lassen und …
Niemals .
Gott, ich würde mich lieber umbringen, als mein ganzes Leben mit einem Job wie diesem zu verschwenden.
Nein, auf keinen Fall.
Wie auch immer, diese Gefahr bestand nicht.
Sie blickte erneut auf die Uhr. Acht Minuten vor fünf.
Während sie über das langsame Verstreichen der Zeit schmunzelte, kehrte das unangenehme Gefühl im Magen zurück. Sodbrennen. Die Folge des heutigen Mittagessens in Simon’s Deli. Tolle Reuben-Sandwiches mit einer üppigen Portion Pastrami und Sauerkraut und einem riesigen Haufen geschmolzenem Schweizer Käse zwischen zwei Scheiben getoastetem Roggenbrot. Der totale Hit.
Ein Besuch im Simon’s bedeutete zwar immer eine lange Fahrt durch die mittägliche Rushhour und Sodbrennen am Nachmittag, aber es fiel Sharon trotzdem furchtbar schwer, der Versuchung zu widerstehen. Sie fuhr mindestens zweimal die Woche hin. Und bekam die Quittung dafür.
Sie blickte erneut auf die Uhr. Sechs Minuten vor fünf.
Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug …
Sie zog eine Seitenschublade ihres Schreibtischs auf und entnahm ihr eine Rolle Kautabletten. Nachdem sie einen Teil der Verpackung abgeschält hatte, drückte sie die erste Tablette mit dem Daumennagel heraus. Sie warf sich die rosa Pille in den Mund und begann zu kauen.
Ihr Telefon klingelte. In der Spätnachmittagsstille des Büros ließ das unerwartete Geräusch sie zusammenzucken. Sie schluckte die Tablette hinunter, lehnte sich über ihren Schreibtisch und angelte nach dem Mobilteil des Telefons. »Anwaltskanzlei J. P. Hammond and Sons, Sharon am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich krieg dich.«
Die Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung klang brutal und gemein. Unter der Bluse breitete sich eine Gänsehaut auf ihrem Rücken aus. Ihre Brüste kribbelten in den Körbchen ihres BHs und ihre Nippel wurden steif.
»Wie bitte?«
»Ich krieg dich, Sharon.«
»Wer ist da?«
»Ich krieg dich JETZT.«
Totenstille. Er hatte aufgelegt.
Sharon knallte das Telefon auf die Ladestation und zog ihre Hand zurück.
Kim, die den Hörer noch immer ans Ohr presste, drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl herum und schaute Sharon stirnrunzelnd an. »Was hast du für ’n Problem?«
»Dieser Anruf …«
»Ich hab hier selber gerade ’n Gespräch, Schätzchen. Kannst du vielleicht ’n bisschen leiser sein?«
»Tut mir leid.«
Die Eingangstür des Büros schwang auf und ein Mann betrat den Raum.
Er?
Der Kerl musste aus dem Flur angerufen haben, wahrscheinlich mit seinem Handy.
Er hielt allerdings kein Handy in der Hand.
Beide Hände waren mit einem Gewehr beschäftigt. Einer Waffe mit kurzem schwarzem Lauf und Pistolengriff.
Susie, deren Schreibtisch direkt neben der Tür stand, begrüßte Besucher für gewöhnlich mit einem »Was kann ich für Sie tun?«, üblicherweise gefolgt von: »Bitte
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