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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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machte einen Schritt zurück. Er starrte den Verkäufer an, der nur hämisch lachte. »Ich hab dir Geld zurückgegeben, mehr als du verdienst. Und jetzt hau ab. Mach, dass du rauskommst, oder ich verpass dir ’nen Tritt in den Hintern. Und wenn du mich zwingst, um die Theke hier rumzukommen, dann nehm ich dir die Flasche wieder ab und das Wechselgeld auch und beförder dich auf meiner Stiefelspitze an die frische Luft. Was darf’s also sein?«
    Ricky trat langsam den Rückzug an. Er drehte sich um und zermarterte sich den Kopf nach einer passenden Entgegnung, doch der Verkäufer fragte nur: »Und? Was ist? Gibt’s ein Problem?«
    Ricky schüttelte den Kopf und ging, die Flasche fest an die Brust gedrückt, und der Mann lachte ihm hinterher.
    Er lief die Straße weiter zu dem Laden an der Ecke. Dort wurde er mit derselben Losung begrüßt: »Hast du Geld?« Erzeigte den Zehn-Dollar-Schein vor. Drinnen kaufte er eine Packung der billigsten Zigarettensorte, die er finden konnte, eine Doppelpackung Biskuitkuchen, zwei Muffins und eine kleine Taschenlampe. In diesem Geschäft bediente ein Teenager, der die Sachen in einen Plastikbeutel warf und ihm ein sarkastisches »Guten Appetit zum Abendessen« wünschte.
    Ricky trat auf den Bürgersteig. Inzwischen war es Abend geworden. Das trübe Licht aus den noch geöffneten Geschäften schnitt kleine helle Quadrate in die Dunkelheit.
    Ricky kehrte zum Eingang der schmalen Gasse zurück. So leise er konnte, schlich er sich ein Stück hinein, schmiegte den Rücken an die Ziegelmauer und glitt tiefer in den Schlund. Dann setzte er sich und wartete, während er darüber nachsann, dass er bis zu diesem Abend nicht die blasseste Vorstellung davon gehabt hatte, wie leicht es war, den Hass der Welt auf sich zu ziehen.
     
    Das Dunkel schien ebenso langsam, aber sicher in ihn einzusickern wie die Hitze während des Tages. Wie schwarzer Sirup träufelte es zähflüssig in ihn ein. So ließ er ein paar Stunden verstreichen. Er glitt in einen Halbschlaf hinüber, mit Traumbildern von dem Menschen, der er einmal gewesen war, und von denen, die in sein Leben getreten waren, um es zu zerstören. Dazwischen spukte ihm sein Plan im Kopf herum, wie er sich sein Leben wiederholen konnte. Es wäre, wie er so in einem ihm unbekannten Teil der Stadt im Dunkeln an die Backsteinmauer der Häuserspalte lehnte, tröstlich gewesen, hätte er sich das Bild seiner verstorbenen Frau ins Gedächtnis rufen können oder wenigstens einen vergessenen Freund oder vielleicht eine Kindheitserinnerung, irgendeinen glück lichen Moment – Weihnachten, das bestandene Abitur, den ersten Smoking zum Ball am Ende eines Highschool-Jahres oder dasFestessen zum Polterabend. Doch all diese Momente schienen zu einer anderen Existenz, zu einer anderen Person zu gehören. Er hatte es nie mit Reinkarnation, mit Seelenwanderung, gehabt, doch jetzt kam es ihm beinahe so vor, als sei er als jemand anders auf die Welt zurückgekehrt. Er roch den immer schlimmer werdenden, schweißnassen Gestank, den sein Stadtstreichermantel verströmte; im Dunkeln hielt er die Hand vor die Augen und malte sich seine schwarz verdreckten Fingernägel aus. Früher einmal hatten dreckige Nägel für die glücklichen Tage gestanden, denn da bedeuteten sie, dass er stundenlang im Garten hinter dem Haus auf dem Cape gearbeitet hatte. Ihm zog sich der Magen zusammen, und der dumpfe Knall, kurz nachdem das im Haus verschüttete Benzin Feuer gefangen hatte, dröhnte ihm in den Ohren. Es war eine akustische Erinnerung, die aus einer anderen Zeitrechnung stammte, von einem Archäologen ans Licht der Gegenwart gezerrt.
    Ricky sah auf und stellte sich vor, Virgil und Merlin säßen jetzt an der Mauer ihm gegenüber. Er sah ihre Gesichter vor sich, hatte den untersetzten Anwalt und die stattliche Frau mit jeder Nuance ihres Mienenspiels vor Augen. Ein Führer auf dem Weg zur Hölle, hatte sie gesagt. Das traf es besser, als sie wohl selbst ahnte. Er spürte die Gegenwart des Dritten in diesem Bunde, doch Rumpelstilzchen war immer noch eine Ansammlung von Schatten, die sich in die nächtliche Umgebung mischten und in die Häuserspalte schwappten wie eine stetig steigende Flut.
    Er hatte völlig steife Beine. Er konnte nicht sagen, wie viele Meilen er seit seinem Eintreffen in Boston gelaufen war. Er spürte seinen leeren Magen und öffnete die Packung mit den Muffins, die er mit zwei, drei Bissen vertilgte. Die Schokolade schlug ein wie ein billiges Amphetamin,

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