Die Angebetete
1
Das Herz eines Konzertsaals sind die Menschen.
Und wenn die riesige Halle – so wie hier gerade – dunkel und leer ist, verströmt sie eine fast greifbare Abneigung, eine Art Gleichgültigkeit.
Sogar Feindseligkeit.
Okay, reiß dich am Riemen, ermahnte Kayleigh Towne sich. Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen.
Sie stand auf der breiten verschrammten Bühne der Haupthalle des Fresno Conference Center, ließ den Blick ein weiteres Mal in die Runde schweifen und machte sich mit dem für sie typischen Perfektionismus an die Vorbereitung des für Freitag angesetzten Konzerts. Sie überdachte in immer neuen Variationen die Beleuchtung, die Bühnenshow und die Stellen, an denen die Bandmitglieder stehen und sitzen sollten. Wo sie sich am besten vorwagen, Fingerspitzen berühren und Kusshände verteilen konnte, ohne der Menge zu nahe zu kommen. Wo die beste Akustik für die Monitorboxen herrschen würde, damit die Band sich ohne Halleffekte und Rückkopplungen selbst hören konnte. Viele Künstler benutzten zu diesem Zweck mittlerweile In-Ear-Kopfhörer; Kayleigh mochte die Direktheit der traditionellen Bodenlautsprecher.
Es gab noch hundert andere Einzelheiten zu berücksichtigen. Sie war der Ansicht, dass jeder Auftritt perfekt sein sollte und dass jedes Publikum das Beste verdiente. Mehr als perfekt. Hundertzehnprozentig.
Immerhin war sie in Bishop Townes Schatten aufgewachsen.
Eine unpassende Wortwahl, merkte Kayleigh.
Ich werde Dein Schatten sein. Für immer …
Zurück zu der Planung. Diese Show musste sich von der letzten hier – vor etwa acht Monaten – unterscheiden. Ein neu gestaltetes Programm war deshalb so wichtig, weil viele der Fans die Konzerte in Kayleighs Heimatstadt regelmäßig verfolgt haben würden, und sie wollte die Leute unbedingt überraschen. Es zählte zu den Besonderheiten von Kayleigh Townes Musik, dass ihr Publikum nicht ganz so groß war wie manch ein anderes, aber dafür treu wie ein Golden Retriever. Die Fans kannten die Liedtexte auswendig, kannten Kayleighs Gitarrenlicks, kannten ihre Bewegungen auf der Bühne und lachten über ihre Scherze, bevor sie die Zeilen beenden konnte. Die Leute lebten und atmeten ihre Auftritte, hingen an ihren Lippen, kannten Kayleighs Lebenslauf, ihre Vorlieben und Abneigungen.
Und einige wollten noch viel mehr wissen …
Bei diesem Gedanken zogen sich ihr Herz und ihr Magen zusammen, als wäre sie mitten im Januar in den Hensley Lake gesprungen.
Bei dem Gedanken an ihn , natürlich.
Dann erstarrte sie und keuchte auf. Ja, da stand jemand am anderen Ende der Halle und beobachtete sie! Aus der Crew hatte niemand dort hinten zu tun.
Die Schatten bewegten sich.
Oder bildete sie sich das alles nur ein? Spielten ihre Augen ihr vielleicht einen Streich? Der liebe Gott hatte Kayleigh ein absolutes Gehör und eine engelsgleiche Stimme geschenkt. Dann hatte er beschlossen, dass das ausreichen musste, und mächtig bei ihrem Sehvermögen geknausert. Sie kniff die Augen zusammen und rückte die Brille zurecht. Ja, dahinten versteckte sich jemand. Er stand im Durchgang zum Lagerraum der Snackbar und wiegte sich vor und zurück.
Dann hörte die Bewegung auf.
Kayleigh kam zu dem Schluss, dass es wohl doch nichts gewesen war. Bloß ein Lichtreflex, ein Schattenspiel.
Andererseits hörte sie auch weiterhin ein beunruhigendes Klicken, Knacken und Knarren – von woher auch immer – und erschauderte in einem Anflug von Panik.
Er …
Der Mann, der ihr Hunderte von E-Mails und Briefen geschrieben hatte – in vertrautem Tonfall, völlig verblendet –, über das Leben, das sie gemeinsam führen könnten, und verbunden mit der Bitte, sie möge ihm Haarsträhnen oder abgeschnittene Fingernägel zusenden. Der Mann, dem es bei einem Dutzend Shows irgendwie gelungen war, Nahaufnahmen von Kayleigh zu schießen, ohne dass er dabei jemals jemandem aufgefallen wäre. Der Mann, der sich vermutlich – wenngleich es nie einen konkreten Beweis dafür gegeben hatte – während der Tour in die Bandbusse oder Wohnmobile geschlichen hatte, um einzelne Kleidungsstücke von Kayleigh zu stehlen, darunter auch Unterwäsche.
Der Mann, der ihr Dutzende Fotos von sich selbst geschickt hatte: struppiges Haar, fett, in Kleidung, die ungewaschen aussah. Die Bilder waren seltsamerweise nie obszön, sondern eher familiärer Natur, was sie nur umso verstörender machte. Sie wirkten wie die Schnappschüsse, die ein Junge von unterwegs an seine Freundin schicken würde.
Er
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