Der Patient
Hort.
Poesie ist nicht gerade meine Stärke.
Hass dagegen schon.
Ich gewähre Ihnen drei Fragen. Ja- oder Nein-Fragen, bitte schön. Gehen Sie dabei vor wie beschrieben, mithilfe von Kleinanzeigen auf der Titelseite der New York Times.
Ich werde sie binnen vierundzwanzig Stunden auf meine Weise beantworten.
Viel Glück. Sie sollten sich auch schon mal die Zeit nehmen, Vorkehrungen für Ihre Beisetzung zu treffen. Einäscherung ist vermutlich einem aufwendigen Trauergottesdienst vorzuziehen. Ich weiß, wie sehr Ihnen Kirchen zuwider sind. Ich halte es für keine so gute Idee, sich an die Polizei zu wenden. Die würden Sie nur auslachen, womit Sie, von sich eingenommen, wie Sie nun mal sind, Ihre Schwierigkeiten haben dürften. Wahrscheinlich würde es mich außerdem noch wütender machen, und im Moment können Sie sich wohl noch kein rechtes Urteil darüber bilden, wie labil ich eigentlich bin. Ich könnte auf unberechenbare und ziemlich böswillige Art und Weise darauf reagieren.
Auf eines allerdings dürfen Sie sich hundertprozentig verlassen:
Meine Wut kennt keine Grenzen.
Der Brief war in Großbuchstaben unterschrieben:
RUMPELSTILZCHEN.
Ricky Starks fuhr mit dem Oberkörper zurück, als hätten ihn die Worte auf dem Blatt wie ein Fausthieb getroffen. Er rappelte sich auf, ging ans Fenster, öffnete es einen Spalt und ließ den Großstadtlärm mit einer für Ende Juli ungewöhnlichen Brise – vielleicht dem ersten Vorboten eines abendlichen Gewitters– in das stille, kleine Zimmer dringen. In der Hoffnung, diese Hitze, die ihn plötzlich erfasst hatte, zu kühlen, atmete er tief ein. Er hörte das schrille Aufheulen einer Polizeisirene ein paar Straßenzüge entfernt und die stetige Kakophonie von Autohupen – das endlose weiße Rauschen in Manhattan. Noch zwei, drei tiefe Atemzüge, dann machte er das Fenster zu und verbannte alle Geräusche normalen städtischen Lebens.
Er richtete sein Augenmerk erneut auf den Brief.
Ich bin in Schwierigkeiten, dachte er. Wie tief, konnte er in diesem Moment noch nicht sagen.
Ihm war bewusst, dass er ernstlich bedroht wurde, doch die Bestimmungsfaktoren dieser Bedrohung lagen noch im Dunkeln. Ein Teil von ihm bestand darauf, das Dokument auf dem Schreibtisch zu ignorieren. Sich diesem ganz und gar nicht spaßigen Spiel schlicht zu entziehen. Er schnaubte einmal verächtlich, während dieser Gedanke Gestalt annahm. Seine gesamte Ausbildung und Berufserfahrung legte nahe, dass dies die vernünftigste Vorgehensweise war. Schließlich stellt der Analytiker immer wieder fest, dass es am klügsten ist, sich gegenüber den provozierendsten und haarsträubendsten Verhaltensweisen eines Patienten in Schweigen zu hüllen und gar nicht zu reagieren, um so zu deren tieferen psychologischen Wurzeln vorzudringen. Er stand auf und lief, wie ein Hund, der einem ungewöhnlichen Geruch nachschnüffelt, zweimal um den Tisch.
Am Ende der zweiten Runde blieb er stehen und starrte erneut auf das beschriebene Blatt.
Er schüttelte den Kopf. Das wird nicht funktionieren, wurde ihm klar. Für einen Moment überkam ihn so etwas wie Bewunderung für die Raffinesse des Schreibers. Ricky begriff, dass er ein schlichtes »Ich werde Sie töten« vermutlich mit anLangeweile grenzender Distanz zur Kenntnis genommen hätte. Immerhin blickte er auf ein recht langes, recht gutes Leben zurück; einem Mann in den mittleren Jahren mit dem Tod zu drohen, dachte er, hieß somit nicht allzu viel. Doch nicht damit war er konfrontiert. Die Bedrohung war indirekt. Jemand anders sollte büßen, wenn er nichts unternahm. Jemand Unschuldiges, und höchst wahrscheinlich jemand Junges, da die Jungen viel gefährdeter als die Alten sind.
Ricky schluckte schwer. Ich würde mir die Schuld dafür geben und mich den Rest meines Lebens damit quälen.
Da lag der Schreiber absolut richtig.
Oder stattdessen Selbstmord begehen. Er hatte plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Selbstmord stand in schärfstem Gegensatz zu seiner ganzen Lebensphilosophie. Er vermutete, dass die Person, die sich Rumpelstilzchen nannte, das wusste.
Mit einem Schlag fühlte er sich wie vor Gericht.
Wieder fing er an, in seinem Sprechzimmer auf und ab zu marschieren. Eine mächtige Stimme in seinem Innern wollte die ganze Sache herunterspielen, diese Botschaft mit einem Achselzucken beiseite schieben, sie feierlich zu einer maßlosen Ausgeburt der Phantasie ohne jede Grundlage in der Realität erklären, musste aber
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