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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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der Hand, dachte Ricky über die Märchenfigur nach, mit deren Namen der Schreiber unterzeichnet hatte. Grausam, sagte er sich. Ein Zauberer-Zwerg mit einer schwarzen Seele, die sich nicht so leicht austricksen lässt, doch schlichtweg Pech hat und den Wettkampf verliert. Bei dieser Überlegung fühlte er sich nicht unbedingt besser.
    Der Brief auf seiner Schreibtischplatte schien zu glühen.
    Er nickte langsam. Er sagt dir eine Menge, schloss er trotzig. Bringe die Worte mit dem in Verbindung, was der Schreiber vermutlich bereits getan hat, und du bist ihm aller Wahrscheinlichkeit nach schon halb auf die Schliche gekommen.
    Also schob er den Brief zur Seite und schlug das Adressbuch auf, um nach der Nummer der ersten von zweiundfünfzig Personen auf der Liste zu suchen. Er verzog ein wenig das Gesicht, während er die Nummern in die Tastatur eintippte. Im Lauf der letzten zehn Jahre hatte er mit seinen Verwandten kaum Kontakt gehalten, und es war anzunehmen, dass keiner von ihnen erpicht darauf war, von ihm zu hören. Besonders, wenn man bedachte, worum es bei diesem Anruf ging.

2
     
    Ricky Starks hielt sich für denkbar ungeeignet, aus Verwandten, die erstaunt waren, seine Stimme zu hören, irgendwelche Informationen herauszuquetschen. Er war es gewohnt, alles zu verinnerlichen, was er von Patienten in seiner Praxis hörte, und über jede Bemerkung und Erkenntnis sorgsam zu wachen. Doch als er nun eine Nummer nach der anderen wählte, fand er sich auf wenig vertrautem, schwergängigem Gelände wieder. Er sah sich außerstande, einen Leitfaden für seine Gespräche zu ersinnen, mit einer Grußformel am Anfang, gefolgt von einer kurzen Erklärung, was der Grund für seinen Anruf war. Stattdessen hörte er in seiner eigenen Stimme nur Zögern und Unentschlossenheit, während er sich durch Grußfloskeln kämpfte, um eine Antwort auf die dämlichste aller Fragen zu bekommen: Ist dir etwas Ungewöhnliches passiert?
    Folglich verbrachte er den Abend mit einer Reihe wirklich irritierender Telefonate. Entweder waren seine Angehörigen überrascht und unangenehm berührt, von ihm zu hören, und wenn es ihnen gerade ungelegen kam, was ihn der eine oder andere auch spüren ließ, wollten sie wissen, weshalb er sich nach so langer Zeit aus heiterem Himmel bei ihnen meldete. Oder sie reagierten schlichtweg unhöflich. Jedes dieser Gespräche hatte etwas Brüskes, und mehr als einmal wurde er ziemlich deutlich abserviert. Mehrfach bekam er kurz angebunden zu hören, »Was zum Teufel soll das eigentlich?«, woraufhiner log, ein ehemaliger Patient habe eine Liste mit den Namen seiner Verwandten in die Finger bekommen und er sei nun besorgt, dieser könne sich bei ihnen melden. Dabei verschwieg er, dass einem von ihnen Gefahr drohen könnte – die, so nahm er an, größte Lüge von allen.
    Es ging bereits auf zehn Uhr abends zu, bald Zeit zum Schlafengehen, und er hatte immer noch mehr als zwei Dutzend Namen auf seiner Liste. Bis jetzt hatte er dem, was ihm seine Gesprächspartner zu berichten hatten, noch nichts entnehmen können, was genauere Nachforschungen gerechtfertigt hätte. Zugleich aber war er sich seiner eigenen investigativen Gabe nicht sicher. Die charakteristisch nebulösen Andeutungen in Rumpelstilzchens Brief ließen ihn befürchten, dass ihm irgendein Zusammenhang einfach entgangen war. Außerdem konnte es sein, dass unter den Verwandten, mit denen er bislang kurz gesprochen hatte, derjenige, mit dem der Briefschreiber tatsächlich in Kontakt getreten war, Ricky nicht die Wahrheit sagte. Und unter den Anrufen hatte es frustrierenderweise einige gegeben, bei denen sich niemand meldete. Dreimal hatte er gestelzte, kryptische Nachrichten auf Anrufbeantwortern hinterlassen.
    Er erlaubte sich nicht, diesen Brief als eine bloße Farce zu betrachten, so verlockend der Gedanke war. Sein Rücken war völlig steif. Er hatte nichts gegessen, und ihm knurrte der Magen. Ihm dröhnte der Kopf. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rieb sich die Augen, bevor er die nächste Nummer wählte. Er fühlte sich erschöpft, spürte, wie ihm die Anspannung in den Schläfen pochte. Die Kopfschmerzen betrachtete er als eine bescheidene Buße für die Wahrheit, die ihm entgegenschlug: dass er sich vom größten Teil seiner Familie isoliert und entfremdet hatte.
    Der Preis für die Vernachlässigung, dachte er, als er sich anschickte,den einundzwanzigsten Namen auf Rumpelstilzchens Liste anzuwählen. Vermutlich ist es unrealistisch,

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