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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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von seinen Verwandten zu erwarten, dass sie einen Kontakt nach so vielen Jahren freudig begrüßen, besonders ferne Verwandte, mit denen er wenig Berührungspunkte hatte. Mehr als einer von ihnen schwieg erst einmal, als er seinen Namen hörte, als wüsste er nicht recht, wo er den Anrufer unterbringen sollte. Angesichts dieser Momente des Schweigens fühlte er sich wie ein greiser Eremit, der von seiner Bergspitze heruntersteigt, oder ein Bär in den ersten Minuten nach einem langen Winterschlaf.
    Der einundzwanzigste Name klang nur entfernt vertraut. Er strengte sich an, mit den Buchstaben auf dem Blatt ein Gesicht zu verbinden und dann den Verwandtschaftsgrad zu ermitteln. Langsam nahm ein Bild in seinem Kopf Gestalt an. Seine ältere Schwester, die vor zehn Jahren verstorben war, hatte zwei Söhne hinterlassen, und der hier war der ältere von den beiden. Dies machte Ricky zu einem ziemlich unbedeutenden Onkel. Seit der Beerdigung seiner Schwester hatte er mit keiner Nichte und keinem Neffen mehr Kontakt gehabt. Er zermarterte sich das Hirn, um mit dem Namen mehr als nur das Aussehen zu verbinden. Hatte dieser Name auf der Liste eine Frau? Familie? Eine berufliche Karriere? Wer war der Mann?
    Ricky schüttelte den Kopf. Er hatte eine Niete gezogen. Am Gerippe dieses Namens war nicht mehr Fleisch als an irgendeinem wahllos aus dem Telefonbuch gegriffenen. Er war wütend auf sich selbst. Das ist nicht in Ordnung, wies er sich zurecht, irgendwas musst du von dem doch wissen. Er stellte sich seine Schwester vor, die fünfzehn Jahre älter gewesen war, eine Alterskluft, mit der sie zwar in derselben Familie aufgewachsen, doch auf vollkommen verschiedenen Umlaufbahnengekreist waren. Sie war die Älteste, er selbst ein Betriebsunfall, der ewige Nachzügler der Familie. Sie war Dichterin gewesen, hatte in den Fünfzigern an einem wohlsituierten Frauen-College ihren Abschluss gemacht, um anschließend ins Verlagswesen zu gehen und dann eine gute Partie zu machen – einen Anwalt für Unternehmensrecht aus Boston. Ihre beiden Söhne lebten in Neuengland.
    Ricky starrte auf den Namen auf dem Blatt. Da stand eine Adresse in Deerfield, Massachusetts, im Vorwahlbezirk 413. Plötzlich brach eine Flut von Erinnerungen über ihn herein. Der Sohn unterrichtete an der Privatschule in jener Stadt. Welche Fächer?, hakte Ricky nach. Die Antwort kam ihm binnen Sekunden: Geschichte. Die Geschichte der Vereinigten Staaten. Er kniff einen Moment die Augen zu und hatte ein Bild vor seinem geistigen Auge: ein kleiner, drahtiger Mann, Tweedjacke und Hornbrille, dunkelblond, mit fortschreitendem Haarausfall. Ein Mann mit einer Frau, die gut fünf Zentimeter größer war als er. Er seufzte und griff, zumindest mit einem bescheidenen Bündel Informationen gerüstet, zum Telefon.
    Er wählte die Nummer und horchte auf die etwa sechs Klingelzeichen, bevor sich eine unverkennbar jugendliche Stimme meldete. Tief, doch erwartungsvoll.
    »Hallo?«
    »Hallo«, sagte Ricky, »ich versuche, Timothy Graham zu erreichen. Sein Onkel Frederick am Apparat. Dr. Frederick Starks …«
    »Hier spricht Tim junior.«
    Ricky überlegte einen Moment, bevor er sagte: »Hallo, Tim junior. Ich glaube, wir sind uns noch gar nicht be…«
    »Doch, sind wir. Einmal. Ich kann mich noch erinnern. Zu Großmutters Beerdigung. Du hast in der Kirche direkt hintermeinen Eltern in der zweiten Reihe gesessen und du hast meinem Dad erzählt, es sei ein Segen, dass Oma ein längeres Siechtum erspart geblieben sei. Ich weiß noch, was du gesagt hast, weil ich es damals nicht verstanden habe.«
    »Du musst …«
    »Sieben. Ich war sieben.«
    »Und jetzt bist du …«
    »Ich werde siebzehn.«
    »Du hast offenbar ein gutes Gedächtnis, wenn du dich an eine einzige Begegnung erinnern kannst.«
    Der junge Mann überlegte einen Moment, bevor er erwiderte, »Großmutters Beerdigung hat mich damals sehr beeindruckt.« Er führte das nicht weiter aus, sondern wechselte das Thema. »Du willst Dad sprechen?«
    »Ja, wenn es geht.«
    «Wieso?«
    Ricky fand die Frage ungewöhnlich für einen Siebzehnjährigen. Nicht weil Tim junior das wissen wollte, denn Neugier war in diesem Alter ganz natürlich. Doch in diesem Zusammenhang klang es ein wenig, als wolle er seinen Vater beschützen. Die meisten Teenager, dachte Ricky, hätten einfach nur nach ihrem Vater gebrüllt, um ihm das Telefon in die Hand zu drücken und sich wieder an das zu begeben, womit sie gerade beschäftigt gewesen waren, ob

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