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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Unzulänglichkeiten häufig und direkt ins Gesicht zu sagen, was zwar manchmal irritieren konnte, aber dennoch ein fester Therapiebestandteil war.
    Er riss den Umschlag auf und zog zwei dicht beschriebene Blätter heraus. Er las nur die erste Zeile:
     
    Herzlichen Glückwunsch zum 53sten Geburtstag,
Herr Doktor. Willkommen am ersten Tag Ihres Todes.
     
    Er schnappte nach Luft. Von der abgestandenen Atmosphäre in der Wohnung wurde ihm plötzlich flau, und er griff nach der Wand, um Halt zu finden.
     
    Dr. Frederick Starks, der sich von Berufs wegen der Nabelschau anderer Menschen widmete, lebte allein.
    Er ging zu seinem kleinen, antiken Ahornschreibtisch hinüber, einem Geschenk, das ihm seine Frau vor fünfzehn Jahren gemacht hatte. Drei Jahre waren seit ihrem Tod vergangen, und wenn er sich an diesen Schreibtisch setzte, dann hatte er das Gefühl, als könnte er immer noch ihre Stimme hören. Er breitete die beiden Seiten des gedruckten Briefs vor sich auf der Schreibtischunterlage aus. Ihm fiel plötzlich ein, dass es ungefähr zehn Jahre her war, seit ihm das letzte Mal etwasrichtig Angst eingejagt hatte, nämlich die Diagnose, die der Onkologe seiner Frau eröffnet hatte. Jetzt war ihm dieser von damals vertraute trockene, saure Geschmack auf der Zunge ebenso unangenehm wie seine erhöhte Herzfrequenz.
    Er wartete geduldig, bis sich das Hämmern in seiner Brust nachhaltig beruhigt hatte. In diesem Moment war er sich seiner Einsamkeit nur allzu bewusst und hasste die Verletzlichkeit, die sie mit sich brachte.
    Ricky Starks – nur selten gab er zu, wieviel lieber er den Spitznamen aus Kinder- und Studententagen als das volltönende Frederick hörte – war notgedrungen ein Mann der Ordnung und Routine. Er zelebrierte eine Pünktlich- und Regelmäßigkeit, die beinahe ans Religiöse, auf jeden Fall aber ans Obsessive grenzte. Das Korsett der Vernunft, in das er seinen Alltag zwängte, konnte, so hoffte er, dem Aufruhr und Chaos, mit dem ihn seine Patienten unentwegt bedrängten, einen Sinn abtrotzen. Er war um die eins fünfundsiebzig groß, von eher leichtem Körperbau und schmaler, asketischer Figur, die er – verbunden mit dem standhaften Verzicht auf Eis und andere Süßigkeiten, für die er eine Schwäche hegte – in seiner Mittagspause täglich mit Walking trainierte.
    Er trug Brille, was für einen Mann seines Alters nichts Ungewöhnliches war, auch wenn ihn seine niedrigen Dioptrienwerte mit einigem Stolz erfüllten. Stolz war er auch darauf, dass sein Haar, wenngleich ein wenig schütter, immer noch wie der Weizen auf dem Feld senkrecht vom Kopf abstand. Er hatte das Rauchen aufgegeben und trank nur ganz selten abends ein Gläschen Wein vor dem Schlafengehen. An seine Einsamkeit hatte er sich gewöhnt – ein
dinner for one
in einem Restaurant konnte ihn nicht mehr schrecken, und auch bei einer Broadway-Show oder einem neuen Kinofilm war er sich selbst Gesellschaft genug. Er fühlte sich geistig und körperlich in besterVerfassung und an den meisten Tagen bedeutend jünger, als er war. Dennoch konnte er die Tatsache nicht verdrängen, dass sein Vater das Alter, in dem er jetzt war, nicht überschritten hatte, und aller Logik zum Trotz hatte er nicht recht daran geglaubt, selbst älter als dreiundfünfzig zu werden, als sei schon die Hoffnung darauf ungehörig, ja geradezu vermessen. Aber, widersprach er seiner düsteren Prognose, ich bin noch nicht bereit zu sterben. Dann las er langsam weiter und hielt bei jedem Satz inne, so dass die aufkeimenden Sorgen und Ängste Zeit fanden, sich in seinem Innern einzunisten.
Ich existiere irgendwo in Ihrer Vergangenheit.
    Sie haben mein Leben zerstört. Auch wenn Sie vielleicht nicht wissen, wie und weshalb oder auch nur, wann, so ist es trotzdem der Fall. Über jede Sekunde meines Daseins haben Sie Desaster und Unglück gebracht. Sie haben mein Leben zerstört. Und jetzt bin ich fest entschlossen, Ihres zu zerstören.
    Ricky Starks schnappte noch einmal nach Luft. In seiner Welt waren leere Drohungen und falsche Versprechungen an der Tagesordnung, doch ihm wurde augenblicklich klar, dass die Worte, die er vor sich hatte, mit den endlosen Tiraden, die er täglich zu hören bekam, nicht zu vergleichen waren.
Zuerst dachte ich, dass ich Sie einfach umbringen sollte, um meine Rechnung mit Ihnen zu begleichen. Doch mir wurde sehr schnell klar, dass das zu einfach wäre. Sie geben eine geradezu lächerlich leichte Zielscheibe ab, Herr Doktor. Tagsüber schließen

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