Der Patient
behandeln. Die Schickimicki-Neurotiker, wie ein Kollege aus seinem Bekanntenkreis seine Klientel gerne nannte. Die bedrückten Betuchten.
Der Gedanke machte ihn wütend. Junge Männer machen Fehler. Das lässt sich nicht vermeiden, egal in welchem Beruf. Jetzt war er nicht mehr jung, und er hätte nicht denselben Fehler begangen, egal, worin er bestand. Es machte ihn rasend, dass er jetzt für etwas zur Verantwortung gezogen werden sollte, das er vor mehr als zwanzig Jahren getan hatte, und jetzt für eine Wahl büßen sollte, die Dutzende andere Ärzte unter ähnlichen Umständen ebenso getroffen hatten. Das war weder logisch noch fair. Wäre Ricky nicht von allem, was geschehen war, so gebeutelt gewesen, hätte er vielleicht gesehen, dass sein ganzer Beruf mehr oder weniger auf einer zentralen Erkenntnis basierte: Die Zeit macht seelische Wunden nur schlimmer. Sie kanalisiert den Schmerz, heilt jedoch nie.
Durchs Fenster sah er den Fluss vorbeiströmen. Er hatte zwar keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte, doch eines war für ihn gewiss: Er wollte in seine Wohnung zurück. Er wollte an einen sicheren Ort, und wenn auch nur für eine Weile.
Für den Rest der Fahrt starrte Ricky fast wie in Trance aus dem Fenster. Selbst wenn der Zug hielt, sah er kaum auf und rührte sich selten. Die letzte Station vor der City war Cro tonon-Hudson, vielleicht fünfzig Minuten vor der Pennsylvania Station. Der Waggon war immer noch so gut wie leer, mit Dutzenden freien Plätzen, und so zuckte Ricky zusammen, als von hinten ein anderer Fahrgast kam und sich dumpf auf den Platz neben ihm fallen ließ.
Erstaunt fuhr Ricky herum.
»Hallo, Doktor«, sagte Anwalt Merlin beschwingt. »Ist der Platz noch frei?«
16
Merlin schien ein wenig außer Atem und hatte ein leicht gerötetes Gesicht wie jemand, der die letzten fünfzig Meter rennen musste, um den Zug zu erwischen. Auf seiner Stirn war ein feiner Schweißfilm zu erkennen, und er griff sich in die Brusttasche seines Jacketts, um ein weißes Leinentaschentuch herauszuziehen und sich damit das Gesicht abzutupfen. »Hätte beinahe den Zug verpasst«, erklärte er überflüssigerweise. »Ich brauche mehr Bewegung.«
Ricky holte tief Luft, bevor er sagte: »Weshalb sind Sie hier?« Unter den gegebenen Umständen eine ziemlich dumme Frage, wie er sich eingestand.
Nachdem der Anwalt sein Gesicht getrocknet hatte, breitete er das Taschentuch auf den Schoß und strich es glatt, bevor er es wieder in die Tasche steckte. Dann verstaute er sein ledernes Aktenköfferchen und eine kleine, wasserdichte Tragetasche zu seinen Füßen. Er räusperte sich und antwortete: »Tja, also, um Sie zu ermutigen, Dr. Starks. Um Ihnen Mut zu machen.«
Ricky merkte, dass sein anfängliches Staunen über das plötzliche Erscheinen des Anwalts verflogen war. Er drehte sich halb zur Seite, um seinen Sitznachbarn besser sehen zu können. »Sie haben mich angelogen, neulich. Ich bin zu Ihrer neuen Adresse …«
Der Anwalt sah ihn ein wenig amüsiert an. »Sie sind zur neuen Kanzlei gefahren?«
»Direkt nach unserem Gespräch. Da hatte man von Ihnen noch nie gehört. In dem ganzen Gebäude nicht. Und ein Büro, das sie an jemanden namens Merlin vermietet hatten, gab es schon gar nicht.«
»Ich bin es aber wirklich«, sagte er. »Das ist höchst seltsam.«
»In der Tat«, sagte Ricky mit Nachdruck. »Höchst seltsam.«
»Und etwas verwirrend. Wieso sind Sie nach unserem Gespräch zu meinem neuen Büro gefahren? Was wollten Sie denn dort, Dr. Starks?« Der Zug beschleunigte das Tempo, während Merlin sprach, und schlingerte ein wenig, so dass die beiden Männer sich unangenehm an den Schultern berührten.
»Ich habe nicht geglaubt, dass Sie derjenige sind, als der Sie sich mir vorgestellt haben, und auch sonst nichts von alledem, was Sie behauptet haben. Mein Verdacht hat sich kurz danach erhärtet, denn als ich an der Adresse auf Ihrer Visitenkarte ankam …«
»Ich habe Ihnen eine Karte gegeben?« Merlin schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht ein wenig zu einem Grinsen.
»Am Umzugstag? Das erklärt einiges.«
»Ja«, sagte Ricky irritiert. »Das haben Sie allerdings. Sie erinnern sich doch zweifellos …«
»Wir hatten einen harten Tag. Ziemliches Chaos. Wie heißt es noch so schön? Tod, Scheidung und Umzüge bringen den meisten Stress fürs Herz. Und auch für die Psyche.«
»Sagt man, ja.«
»Also, der erste Stoß Visitenkarten, den ich drucken ließ, kam mit der falschen
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