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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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übrigen Geräuschkulisse die Worte herauszuhören, doch das war nicht möglich. Dann der Knall eines Telefons, das auf den Sockel gerammt wird. Wenige Sekunden später hörte er die Schritte des alten Mannes auf der Treppe und dann das Öffnen und Schließen einer Tür.
    Er zwang sich, die Augen offen zu halten. Fünfzehn Sitzungen und dann der Tod, dachte er. Wer konnte das sein?
    Er merkte nicht mehr, wie er in den Schlaf sank, fühlte nur die helle Sonne mitten im Gesicht, als er erwachte. Es mochte ein makelloser Sommermorgen sein, doch auf Ricky lasteten die Erinnerungen und das Gewicht der Enttäuschung. Er hatte gehofft, der alte Arzt wäre vielleicht in der Lage gewesen, ihn direkt auf einen Namen zuzusteuern, stattdessen fühlte er sich auf den stürmischen Wogen seiner Erinnerungen so ankerlos wie nie zuvor. Dieses Gefühl des Versagens hämmerte ihm wie ein Kater in den Schläfen. Er zog sich die Hose an, die Schuhe, das Hemd, schnappte sich sein Jackett und machte sich, nachdem er sich Wasser ins Gesicht gespritzt und mit den Fingern durch die Haare gegangen war, um halbwegs präsentabel auszusehen, auf den Weg nach unten. Zielstrebig lief er die Stufen herunter, von dem einen Gedanken beseelt, dass er sich auf nichts anderes zu konzentrieren hatte als auf den geheimnisvollen Namen von Rumpelstilzchens Mutter. Er hatte sich mit der Einsicht gewappnet, dass Dr. Lewis’ Vorschlag, die ihm gestellte Frist mit der Dauer der Behandlung zu verbinden, richtig war. Was noch nicht an die Oberfläche kam, wurde Ricky klar, waren die Lebensumstände der Frau. Er gestand sich ein, dass er die weniger gut situierten Frauen, die er an der Psychiatrischen Klinik behandelt hatte, viel zu arrogant und voreilig ausgeklammert hatte, weil er sich am liebsten auf diejenigen Patientinnen konzentriert hätte,die er als erste analysiert hatte. Ihm kam der Gedanke, dass die Frau ihn genau in der Zeit aufgesucht hatte, als er für sich selbst wichtige Weichen gestellt hatte: über seine berufliche Laufbahn, über die Entscheidung, Psychoanalytiker zu werden, über seine große Liebe und seine Eheschließung. Es war eine Zeit, in der er wie in einer Einbahnstraße nur in die Zukunft blickte, und so musste sein Fehlschlag in ein Umfeld gehören, das er lieber von sich wies.
    Deshalb wohl war er so blockiert. Auf dem Weg die Treppe hinunter beflügelte ihn der Gedanke, dass er wie eine Art Dammbrecher im Zweiten Weltkrieg auf diese Erinnerungen losgehen konnte: Wirf einen ordentlichen Sprengsatz auf den Beton der verdrängten Geschichte, und alles bricht auf. Er war zuversichtlich, dass er mithilfe von Dr. Lewis zu dieser Attacke übergehen konnte.
    Die Sonne, die milde Landluft, die in die Räume drang, schienen all seine Fragen und Zweifel, die ihm zu seinem alten Analytiker gekommen waren, zu zerstreuen. Die irritierenden Aspekte ihrer gestrigen Unterhaltung verflogen im hellen Glanz des Morgens. Auf der Suche nach seinem Gastgeber steckte Ricky den Kopf ins Arbeitszimmer, doch es war leer. Er lief den Flur des alten Bauernhauses entlang zur Küche, wo ihm der Duft von Kaffee in die Nase stieg.
    Dr. Lewis war nicht da.
    Ricky versuchte es mit einem lauten und deutlichen Hallo, bekam jedoch keine Antwort. Er warf einen Blick auf die Kaffeemaschine und sah die frisch aufgebrühte Kanne auf der Wärmeplatte, daneben eine Tasse, die für ihn bereitgestellt war. Daran lehnte ein gefaltetes Blatt Papier, auf dem in Bleistift sein Name stand. Ricky goss sich eine Tasse Kaffee ein und faltete den Zettel auf, während er die bittere, heiße Flüssigkeit schlürfte. Er las:
Ricky,
    ich musste unerwartet weg und rechne nicht damit, zurückzukehren, solange Sie noch da sind. Ich glaube, Sie sollten die Arena genauer unter die Lupe nehmen, die Sie damals verließen, und nicht diejenige, die Sie betraten, um die fragliche Person zu finden. Darüber hinaus frage ich mich, ob Sie nicht, falls Sie das Spiel gewinnen, in Wahrheit verlieren, oder wenn Sie es umgekehrt verlieren, nicht in Wirklichkeit gewinnen können. Denken Sie gründlich über Ihre beiden Alternativen nach.
    Bitte nehmen Sie aus keinem Grund und zu keinem Zweck wieder Verbindung mit mir auf.
     
    gez. M. Lewis, M. D.
    Er wirbelte so heftig herum, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen.
    Der Kaffee schien ihm Zunge und Rachen zu verbrühen. Unter einer Aufwallung von Wut und Verwirrung lief Ricky rot an. Dreimal las er die Zeilen durch, doch jedesmal erschienen sie ihm

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