Der Piratenfuerst
Captain! Ich habe doch nichts getan! Bin bloß 'n ehrlicher Seemann!«
Er tastete nach Bolithos Schuhen, und als dieser sich bückte, um ihn aufzuheben, sah er mit Schrecken, daß man dem Mann sämtliche Fingernägel ausgerissen hatte.
»Steh auf!« sagte Allday grob. »Du sprichst mit einem Offizier des Königs!«
»Still!« Bolitho hob die Hand. »Sehen Sie ihn doch an! Der hat genug gelitten.«
Der Matrose ließ seinen Entersäbel fallen und half dem Mann in einen Stuhl. »Ich hole ihm was zu trinken, Käpt'n!« Er riß ein Schapp auf und fuhr erschrocken herum, als der Kleine angstvoll schrie: »Rühr das nicht an! Er zieht dir bei lebendigem Leibe die Haut ab, wenn du auch nur hineinzuschauen wagst!«
»Wer?« fragte Bolitho.
Da erst schien der Mann zu begreifen. Was jetzt geschah, gehörte nicht mehr zu der furchtbaren Folge von Alpträumen, die er erlebt hatte. Er starrte in Bolithos ernstes Gesicht; die Tränen rannen ihm hilflos über die hohlen Wangen.
»Muljadi!«
»Was – ist der hier?« keuchte Carwithen.
Der elende kleine Mann spähte an Bolitho vorbei; seine angsterfüllten Augen sahen die Matrosen im Gang, den Toten bei der Luke.
»Da! Sein Sohn!«
Bolitho fuhr herum und beugte sich über den Mann, den Lincoln niedergestochen hatte. Natürlich, das hätte er sehen müssen, statt sich selbst zu gratulieren, weil er einem gräßlichen Tod entgangen war.
Der Mann lebte noch, obwohl Lincolns Klinge ihm tief in Hals und Schulter gedrungen war und eine große klaffende Wunde gerissen hatte. Nur um Haaresbreite mußte sie die Arterie verfehlt haben. Der Mann war nackt bis zum Gürtel, aber seine weite Hose, jetzt von seinem eigenen Blut und dem des Matrosen befleckt, war aus feinster Seide. Die Augen waren fest geschlossen, die Brust hob und senkte sich unter raschen, unregelmäßigen Atemzügen.
»Lassen Sie mich den Bastard fertigmachen, Sir!« bettelte Carwithen.
Bolitho achtete nicht auf ihn. Der Verwundete war nicht viel älter als zwanzig; um den Hals trug er ein goldenes Medaillon in Form einer aufgerichteten Raubkatze – wie das Tier auf Muljadis Flagge. Da bot sich vielleicht eine Möglichkeit.
»Verbindet ihn!« befahl Bolitho kurz. »Ich will ihn lebend haben!« Er wandte sich dem zerlumpten kleinen Mann in der Kajüte zu. »Meine Leute werden sich um dich kümmern, aber erst will ich...«
Der Mann verdrückte sich zur Tür. »Ist es wirklich vorbei, Sir?« Er zitterte heftig und war nahe am Zusammenbrechen.
»Ist das nicht bloß wieder so ein grausamer Trick?«
Allday erwiderte ruhig: »Das ist Captain Bolitho, Alter, von Seiner Majestät Schiff Undine.«.
»Und jetzt sag uns, wer du bist!« befahl Bolitho.
Der Kleine sank wie ein verprügelter Hund wieder auf dem Fußboden zusammen.
»Ich war Segelmacher, Sir, auf der portugiesischen Bark Alvarez. Hab' in Lissabon angemustert, weil ich mein Schiff verloren hatte. Wir fuhren Stückgut von Java, da wurden wir von Piraten überfallen.«
»Wann war das?« fragte Bolitho. Er sprach ganz langsam, denn der Mann war offenbar völlig durcheinander.
»Vor einem Jahr, Sir, glaube ich.« In angestrengtem Nachdenken kniff er die Augen zu. »Sie brachten uns zu Muljadis Ankerplatz, wenigstens die Überlebenden. Die meisten hat Muljadi umgebracht. Mich hat er nur leben lassen, weil ich Segelmacher bin. Einmal hab' ich versucht zu fliehen. Nach 'ner Stunde hatten sie mich wieder und haben mich gefoltert.« Sein Zittern verstärkte sich. »Die ganze Bande sah zu, hatte ihren Spaß dran und lachte.« Er sprang auf, packte sein Entermesser, das an der Tür lag, und schrie: »Sie haben mir alle Fingernägel ausgerissen, und noch Schlimmeres getan, die verfluchten Hunde!«
Lincoln packte ihn beim Handgelenk und drehte es so, daß das Entermesser nicht mehr auf den Verwundeten gerichtet war.
»Langsam, Alter! Sonst stellst du noch was an mit dem Ding.«
Irgendwie schien Lincolns gelassen-freundliche Stimme den Kleinen zu beruhigen. Er drehte sich um und blickte Bolitho ganz vernünftig an. »Mein Name ist Jonathan Potter, Sir, aus Bristol.«
Bolitho nickte. »Schön, Jonathan, du kannst mir nützlich sein. Deine Kameraden werden davon zwar nicht wieder lebendig, aber vielleicht können wir andere vor einem ähnlichen Schicksal bewahren. Allday, kümmern Sie sich um ihn!«
Er trat aus der Kajüte, dankbar für die frische Luft an Deck, für die Aktivität, mit der Davys Leute Vorbereitungen zum Segelsetzen trafen. Potter war sicherlich
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