Der Piratenfuerst
zum Fenster. »Nun bleiben Sie aber sachlich, Mr. Whitmarsh! Als gewöhnlicher Pirat würde er verurteilt und gehängt, wie Sie recht gut wissen. Aber falls er tatsächlich Muljadis Sohn ist, dann können wir ihn als Druckmittel benutzen. Hier steht mehr auf dem Spiel, sind mehr Menschenleben in Gefahr, als ich geglaubt habe. Da kann ich auf Ihre Privatgefühle keine Rücksicht nehmen.«
Whitmarsh hielt sich an der Tischkante fest und beugte sich vor. »Wenn Sie durchgemacht hätten, was ich...«
Bolitho wandte sich scharf zu ihm um. »Ich weiß Bescheid über die Sache mit Ihrem Bruder, und er tut mir aufrichtig leid. Aber wie viele Hochverräter und Mörder haben Sie schon hängen oder in Ketten verfaulen sehen, ohne auch nur einen Gedanken an sie zu wenden?« Er merkte, daß jemand oben an dem offenen Skylight stehen blieb, und senkte die Stimme.
»Menschlichkeit bewundere ich. Aber Sentimentalität lehne ich ab.« Er beobachtete, wie die Wut in den Zügen des Arztes tiefem Schmerz wich. »Also geben Sie sich Mühe mit dem Gefangenen«, fuhr er fort. »Wenn es ihm bestimmt ist, gehängt zu werden, kann ich es nicht verhindern. Aber wenn ich sein Leben zu unserem Vorteil nutzen kann und es ihm damit rette, dann um so besser.«
Unsicher wankte Whitmarsh zur Tür und sagte dumpf: »Und diesen Potter vom Schoner lassen Sie schon wieder Dienst machen!«
Jetzt lächelte Bolitho. »Sie sind aber wirklich hartnäckig, Mr.
Whitmarsh! Potter hilft dem Segelmacher. Er wird sich schon nicht totarbeiten, und ich glaube, wenn er was zu tun hat, wird er sich schneller erholen als beim Brüten über seine Leiden.«
Etwas Unverständliches murmelnd, stelzte Whitmarsh steif aus der Tür.
»So eine Frechheit!« rief Herrick. »Den hätte ich an Ihrer Stelle mit einem Belegnagel Mores gelehrt!«
»Das bezweifele ich.« Bolitho schwenkte seinen Kaffeebecher, aber der war leer. »Doch er wird mich nie verstehen und noch weniger mir vertrauen.«
Dann ließ er sich von Noddall seine Galauniform und seinen besten Dreispitz bringen und kam sich ziemlich lächerlich vor, als der Steward ihn abbürstete und ihm Manschetten und Aufschläge zurechtzupfte.
»Ein böses Risiko gehen Sie da ein, Sir«, sagte Herrick unvermittelt.
»Aber eines, das sich nicht vermeiden läßt, Thomas.« Eben zog Noddall ein langes Haar von einem seiner Rockknöpfe. Ihr Haar. Ob Herrick das gesehen hatte? »Wir müssen dem französischen Kapitän trauen. Alles weitere ist bloße Spekulation.«
Noddall hatte den alten Degen vom Gestell genommen, aber er hängte ihn sich nur über den Arm – wußte er doch, daß er sein Leben riskierte, wenn er sich Alldays geheiligtes Ritual anmaßte.
Bolitho seinerseits dachte an Whitmarshs Zorn, der zum Teil nicht unbegründet war. Hätte er den Gefangenen ins Fort zurückgeschickt, wäre er von Puigserver bestimmt in Eisen gelegt worden, bis er ihn der nächsten spanischen Behörde übergeben konnte. Dort wäre er dann – falls er Glück hatte – ohne weitere Umstände gehängt worden. Wenn er kein Glück hatte... Nun, darüber dachte man am besten nicht nach. Der Sohn hätte für den Vater büßen müssen.
Wie es jetzt stand, mußten die Überlebenden der Schonerbesatzung, ein wüster Haufen, in Kürze ein rasches, unrühmliches Ende finden. Wieviele Menschen hatten sie auf dem Gewissen? Wieviele Schiffe hatten sie ausgeraubt, wieviele Besatzungen über die Klinge springen lassen oder zu menschlichen Wracks gemacht wie Potter, den Segelmacher aus Bristol? Da kamen sie vergleichsweise gut weg, wenn sie aufgeknüpft wurden.
Bolitho ging hinaus, noch immer tief in Gedanken über Recht und Unrecht bei Schnelljustiz.
An Deck war es frisch; die Tageshitze hatte noch nicht eingesetzt, und er machte, solange noch Zeit dazu war, einen kleinen Spaziergang an Luv. In dem schweren Galarock würde ihm bald der Schweiß ausbrechen, wenn er sich nicht im Schatten der vollen Segel hielt.
Fowlar tippte grüßend an die Stirn und fragte unsicher: »Darf ich Ihnen danken, Sir?«
»Sie haben es zweifellos verdient, Mr. Fowlar«, lächelte Bolitho. Er hatte den Steuermannsmaat zum Vizeleutnant befördert, um die Lücke zu füllen, die Davy an Bord hinterlassen hatte. Wäre der junge Keen mit ihnen gesegelt, hätte er das Glück gehabt. Nun würde Fowlars früheren Rang ein anderer bekommen. Für den würde wieder einer nachrücken, und so ging es immer weiter – wie auf allen Schiffen.
Herrick nahm Fowlar beiseite und
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