Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
was für mich ein besonderer Vertrauensbeweis war, einverstanden, dass sein Foto in einem Buch erschien. Diesem Buch. Nun fehlte nur noch etwas sehr Wichtiges. Ich musste den Mörder persönlich treffen, musste sehen, wie er aussah, wie er sich bewegte, wie er sich hinsetzte, wie er lächelte. Bis dahin hatte ich immer nur mit ihm telefoniert. Ich kannte das Haus nicht, in dem er lebte, kannte weder seine Frau noch seine Kinder. Um all dies zu sehen und die Welt kennenzulernen, die diese auffällige Figur der brasilianischen Wirklichkeit formte, reiste ich schließlich im April 2006 nach Porto Franco, wo Júlio Santana mit seiner Familie lebte. Ich verbrachte drei Tage mit einem sehr ruhigen, gut gelaunten, häuslichen Mann, der sehr zärtlich zu seiner Frau und den Kindern war und sehr religiös. Einem auf den ersten Blick ganz gewöhnlichen Mann. Ganz anders als die Mörder aus Büchern und Filmen.
Mit drei Notizblöcken voll Aufzeichnungen machte ich mich an die zweite Phase der Arbeit: andere Quellen ausfindig machen, Dokumente, Personen, die Santanas Aussagen bestätigen oder widerlegen konnten. Ich interviewte fast vierzig Personen, vom Polizisten bis zum Goldwäscher in Serra Pelada, natürlich auch Verwandte der von Santana ermordeten Menschen. Und ich bekam Zugang zu Verhör- und Gerichtsprotokollen. Erstaunlicherweise bestätigten sowohl die Personen als auch die Dokumente, was Júlio Santana mir erzählt hatte, und lieferten mir weitere Details über die Fälle in diesem Buch.
Die Geschichte, die Sie auf den folgenden Seiten lesen werden, ist das Porträt eines Mannes, der in einer Ansiedlung mitten im amazonischen Regenwald zur Welt kam und den alles dazu bestimmte, ein einfacher Fischer zu sein, vergessen irgendwo in den Tiefen des Urwalds, wie so viele in Amazonien. Vergessen von den Behörden und der Regierung, ohne Strom, fließendes Wasser, Kanalisation, Schulen oder Gesundheitsstationen. Wo es weder Sicherheit gibt noch Polizei. Ein herrliches Ambiente, gewiss, mit einer faszinierenden Tierwelt, jahrhundertealten Bäumen und endlosen Flüssen. Aus dieser märchenhaften und unwirtlichen Gegend stammt Júlio Santana, ein Brasilianer, der sein Leben lang nur Brasilianer getötet hat, überall in Brasilien, auch in São Paulo, Paraná, Bahia oder Goiás. Der aber stets stolz darauf war, nie aus Hass oder eigenem Antrieb getötet zu haben, »nur, wenn man mich dafür bezahlt«, wie er mir unzählige Male versicherte. Und trotz der fast fünfhundert Toten auf seinem Gewissen ist Júlio Santana nur ein einziges Mal im Gefängnis gewesen, im Mai 1987. Und das will er nicht noch einmal erleben.
DER ERSTE AUFTRAG
Schon seit gut drei Stunden lauerte Júlio Santana auf den Fischer Antônio Martins, mitten im Amazonaswald, wo Maranhão an das nördliche Goiás – das heutige, 1988 gegründete Tocantins – grenzt. Es war sehr heiß. Aber Júlio fröstelte und sein Magen krampfte sich zusammen. Versteckt zwischen jahrhundertealten, bis zu vierzig Meter hohen Bäumen zielte er mit seinem Gewehr auf den Fischer. Aus dem Gebüsch heraus beobachtete Júlio den Mann, der in seinem Boot auf einem Nebenarm des Rio Tocantins schaukelte. Er wusste genau, was zu tun war. »Ein Schuss mitten ins Herz, fertig«, dachte er bei sich. Für einen Jungen von knapp siebzehn Jahren, der noch nie auf einen Menschen geschossen hatte, allerdings keine einfache Aufgabe.
Mit seinen ein Meter sechsundsiebzig und fünfundsechzig Kilogramm Gewicht war Júlio eher schmächtig, er hatte noch keinen Bart, eine breite Nase, schmale Lippen und dunkles, krauses Haar. Deutlich stachen aus seinem dunklen Teint blaue Augen hervor. An jenem Nachmittag des 7. August 1971 versuchte er zu erledigen, was sein Onkel, der Polizist Cícero Santana, ihm am Abend zuvor aufgetragen hatte: »Einfach aufs Herz zielen, und stell dir vor, dass du auf ein Tier schießt, auf der Jagd«. Aber auf einen Menschen zu schießen war neu für den Jungen – und unangenehm. Es war nicht dasselbe, wie Pacas, Wildschweine, Affen oder Hirsche zu jagen, damit Essen ins Haus kam. Nervös hockte er auf dem vom Regen am Vorabend noch feuchten Boden, stützte sein Gewehr zwischen seinen Beinen ab und ließ, an einen Paranussbaum gelehnt, revue passieren, was ihn in diese Lage gebracht hatte.
Es hatte alles vor zwei Tagen begonnen. Am Nachmittag gegen fünf Uhr war er nach vier Stunden Jagd aus dem Wald heimgekehrt, einen jungen Hirsch über der Schulter. Von dem Fleisch
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