Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
auch heute, in der dritten Legislaturperiode unter Regierung einer aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangenen »Partei der Werktätigen« ist in brasilianischen wie internationalen Zeitungen so regelmäßig wie beiläufig davon zu lesen, dass Menschen um ihr Leben fürchten oder ermordet wurden, weil sei sich in Brasilien einem Unternehmen, einem Großgrundbesitzer, dem Großprojekt eines multinationalen Konzerns in den Weg stellen.
Im Januar 2011 bekam Brasilien mit Dilma Rousseff eine Präsidentin, die selbst Teil des bewaffneten Widerstands gegen die Militärdiktatur war, selbst im Gefängnis gesessen hat und gefoltert wurde. José Genoino, der Mann, den Júlio Santana am Anfang seiner Karriere festnehmen half, erhielt im Mai 2011 als erster Ex-Guerillero den Verdienstorden des brasilianischen Verteidigungsministeriums.
Dazwischen liegen dramatische Jahre: Massive wirtschaftliche Probleme zwangen die Militärs zur so genannten »Abertura«, der »Öffnung« ihres Regimes, 1979 wurden die Repressionsparagrafen aufgehoben und eine Amnestie für politische Straftaten verkündet. 1985 – als Júlio Santana im Auftrag eines Kleinstadtbürgermeisters einen lokalen Gewerkschafter tötete – soll mit Tancredo Neves erstmals wieder ein Zivilist brasilianischer Präsident werden, er stirbt allerdings unmittelbar vor seiner Amtseinführung. Sein Nachfolger wird der Großgrundbesitzer José Sarney aus Júlio Santanas Bundesstaat Maranhão, die Bevölkerung geht für Direktwahlen auf die Straße. 1988 wird Chico Mendes, der Anführer einer Gummizapfergewerkschaft ermordet, was für kurze Zeit sogar internationale Aufmerksamkeit auf die privatisierte Gewalt in Brasilien richtet. In den Fernsehnachrichten wird damals außerdem täglich die galoppierende Inflationsrate durchgesagt. Hyperinflation war das Schlagwort, als Brasilien 1989 erstmals seit 1961 wieder einen Präsidenten direkt wählen durfte: den als Kämpfer gegen Vetternwirtschaft und Korruption auftretenden Lebemann Fernando Collor de Mello, der zwei Jahre später wieder aus dem Amt gejagt wurde – wegen Korruption. Die Wirtschaftskrise verschärfte sich, wer konnte, verließ das Land. 1994 standen sich im Wahlkampf um das Präsidentenamt der Soziologe Fernando Henrique Cardoso und der Anführer der Partei der Werktätigen (PT) Luiz Inácio Lula da Silva gegenüber. Cardoso entschied die Wahl für sich, und Brasilien gelangte allmählich wieder in ruhigere Fahrwasser, stabilisierte sich ökonomisch, der inzwischen längst zur Legende avancierte Lula wurde dann 2003 Präsident und erklärte, die grassierende Armut im Land zu bekämpfen, zu seinem wichtigsten Ziel. Inzwischen so sagt man, sei Hunger in Brasilien kein Problem mehr und im offiziellen Logo der Staatsregierung steht »País rico é país sem pobreza«, ein reiches Land sei nur jenes, das keine Armut kennt, was weiter als Aufforderung gemeint ist. Denn die soziale Kluft ist gigantisch wie eh und je, insbesondere im »Hinterland«. Achtzig Prozent des Landes sind in der Hand von maximal zehn Prozent der Bevölkerung, vor allem Landkonflikte werden wie eh und je auch mit Waffengewalt und privaten Milizen »gelöst«.
Das Leben des Pistoleiros Júlio Santana könnte fast ein Roman sein. Doch es ist Realität und spiegelt über drei Jahrzehnte brasilianischer Geschichte wieder. Der Protagonist dieses Tatsachenberichts versteht die großen Zusammenhänge, deren Teil er ist, vermutlich höchstens im Ansatz. Damit ist er – und das gibt seiner Lebensgeschichte eine zweite, ebenso banale wie interessante Perspektive – ein ganz gewöhnlicher, schlecht ausgebildeter brasilianischer Tagelöhner.
Michael Kegler,
Februar 2013
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