Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
würde die Familie mindestens eine Woche lang essen können. Der Junge war stolz. Er hatte das Tier mit einem einzigen Kopfschuss erlegt. Júlio lebte mit seinen Eltern – Seu Jorge, dreiundvierzig, und Dona Marina, achtunddreißig – und zwei jüngeren Brüdern – Pedro, vierzehn, und Paulo, elf – in einer Holzhütte in einer Ansiedlung am Ufer des Tocantins, im Landkreis Porto Franco im Südwesten von Maranhão. Anfang der siebziger Jahre war diese Region noch vollkommen abgeschieden und umgeben von Urwald, Porto Franco hatte kaum zweitausend Einwohner. Heute leben dort an die achtzehntausend Menschen.
Das Haus hatte nur einen einzigen Raum. Die Kochstelle befand sich gleich links neben der Eingangstür. Ein Brett trennte den Herd und die wenigen Kochutensilien – drei Töpfe, Besteck, zwei Messer und fünf Gläser – von einem Holzmöbel, das Seu Jorge selbst gebaut hatte und das als Kleiderschrank diente. Einen Tisch oder Stühle gab es nicht. Elektrisches Licht auch nicht – bis heute haben viele Siedlungen dort noch keinen Strom. Fünf Hängematten hingen im Raum, in denen schliefen die Familienmitglieder. Júlio hatte noch einen älteren Bruder, Joaquim, einundzwanzig, der mit achtzehn auf der Suche nach einem besseren Leben nach São Luís, die Hauptstadt von Maranhão, aufgebrochen war. Sie hatten nie wieder von ihm gehört.
Noch bevor er von der Jagd nach Hause zurückgekehrt war, hatte Júlio das Boot seines Onkels – eine »Voadeira« mit Außenbordmotor – bemerkt, das an einem Baumstamm festgebunden war. Sein Onkel Cícero war damals einundddreißig Jahre alt. Er war wie er in der Gegend aufgewachsen und hatte mit fünfzehn sein Glück in Imperatriz versucht, einer anderen Stadt in Maranhão. Eines Tages war er wieder in Porto Franco erschienen, in Uniform, und hatte erzählt, er sei nun Polizist. Er war der Stolz der Familie. Cícero jagte, angelte und streifte gern durch den Urwald. Von ihm hatte Júlio das Schießen gelernt und konnte mit elf bereits ein Tier aus hundert Metern über den Fluss hinweg treffen. In den vielen Stunden, die sie gemeinsam im Urwald verbrachten, Schießen übten, jagten, angelten und im brackigen Wasser des Rio Tocantins badeten, war zwischen den beiden eine feste und von allen bewunderte Freundschaft entstanden.
Als er das Boot seines Onkels sah, rückte Júlio den Hirsch auf seinen Schultern zurecht und ging etwas schneller. Längere Zeit schon war Cícero nicht mehr bei der Familie gewesen. Normalerweise erholte er sich hier mindestens einmal im Monat ein paar Tage lang. Bevor er eintrat, legte Júlio das Tier vor der Tür ab. Stolz ging er auf seinen Onkel zu.
»Onkel, schau, was ich erlegt habe. Einen ganz jungen Hirschen. Ich habe ihn glatt in die Stirn getroffen, wie du es mir beigebracht hast. Das wird ein Festessen«, sagte Júlio.
»Sehr gut, mein Junge«, antwortete Cícero und lächelte seinem Bruder anerkennend zu. »Lass uns das Tier anschauen«, sagte er und umarmte den Neffen.
In dieser Nacht tauchte Vollmond den Urwald in ein helles Licht, das sich im Tocantins spiegelte, als ginge bereits der Morgen auf. Beim Abendessen – gebratener Fisch mit Reis und Maniokmehl – erzählte Cícero, dass Soldaten aus São Paulo, Brasília und Pará in die Gegend von Porto Franco bis nach Marabá im südlichen Pará geschickt worden waren. In den Kleinstädten wimmelte es nur so von Militär.
»Es heißt, sie sind hinter Kommunisten her, die sich in den Wäldern am Araguaia verstecken und auch hier in der Gegend«, sagte der Polizist.
»Die Leute reden über nichts anderes mehr«, sagte Seu Jorge, Júlios Vater. Der Junge versuchte erst gar nicht zu verstehen, um was es ging.
»Die Militärs sagen, die Kommunisten wollen Brasilien zerstören, und wir dürften das nicht zulassen. Sie fordern die Leute aus der Region auf, ihnen bei diesem Feldzug zu helfen.«
»Wie sollen die Leute denn helfen, Cícero?«, fragte Dona Marina.
»Ich habe einen Freund, der ist Polizeioffizier in Xambioá 1 . Er sagt, dass die Armee Leute braucht, die sich in den Wäldern auskennen und schießen können, um bei der Jagd auf die Kommunisten zu helfen«, antwortete Cícero.
Als er das hörte, sagte Júlio, der sich bis dahin nicht für das Gespräch interessiert hatte:
»Schießen kann ich, und im Wald finde ich mich immer zurecht. Kann ich dabei sein bei dieser Arbeit?«
»Red’ keinen Unsinn, mein Junge! Glaubst du, das ist ein Spiel?«, unterbrach ihn Dona Marina
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