Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
dem Geräusch des auf das Strohdach prasselnden Regens und wiederholte dabei wieder und wieder für sich die zwei Gebete. Er wollte sichergehen, dass er auch nach dem erledigten Auftrag nichts falsch machte.
Anders als sonst erwachte Júlio von alleine, ohne dass Seu Jorge ihn in seiner Hängematte anstoßen und ohne dass seine Mutter ihn rufen musste. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen und verbarg sich hinter dem dichten Regenwald. Er nahm sein Gewehr, das in einer Ecke an der Wand lehnte, steckte eine Handvoll Patronen in die Tasche und zog hastig sein Hemd über. Als er ein Messer am Gürtel befestigte, schaute er zu Cícero hinüber. Er wusste nicht, ob sein Onkel tatsächlich schlief oder sich nur schlafend stellte.
»Gehst du auf eine Beerdigung, Junge?“, fragte Dona Marina.
»Ich gehe auf die Jagd, Mutter«, antwortete Júlio gereizt. Doch Dona Marina war so beschäftigt, das Frühstück vorzubereiten – gerade setzte sie Maniok auf –, dass sie Júlios Beklemmung gar nicht bemerkte.
Hastig verließ Júlio die Hütte. Im Wald hörte er die Guariba-Affen, die trotz ihrer geringen Größe von kaum achtzig Zentimetern markerschütternde Schreie von sich gaben, was ihn sonst immer belustigte. Doch diesmal machte es ihn nur noch nervöser. Nach einer Dreiviertelstunde Fußmarsch durch den Regenwald erreichte Júlio den Ort, an dem er auf sein Opfer warten sollte. Ein Nebenarm des Rio Tocantins, in dem Amarelo am liebsten Surubim-, Pintado- oder Paraíba-Welse angelte. Dass der Fischer noch nicht dort war, erfüllte Júlio mit vager Hoffnung. »Wenn er nicht bald kommt, gehe ich wieder zurück nach Hause und sage, dass ich es nicht tun werde«, dachte er bei sich. Mit jeder Minute wuchs Júlios Erleichterung. Amarelo erschien nicht. Gott wollte verhindern, dass er zum Mörder wurde. Júlio erinnert sich, dass er fast so etwas wie Glück empfand. Erleichterung.
Er lehnte seine Flinte gegen einen Baum und legte sich auf den Boden. Mit gefalteten Händen streckte er die Arme über den Kopf so weit es ging, bis sich seine Muskeln schließlich entspannten. In den Baumkronen sah er einen Klammeraffen an einem Ast hängen. Er fühlte sich so frei und froh wie das Tier. In diesem Moment war er sicher: Gott würde nicht zulassen, dass Amarelo erschien. Er schloss die Augen und sog den Duft der noch feuchten Erde ein. Schließlich fielen ihm die Augen zu, er hatte ja in der Nacht kaum geschlafen. Wie viel später er wieder erwachte, weiß er nicht. Er hatte schon völlig vergessen, warum er dort lag. Als er aufstand, klebte sein Hemd von der Feuchtigkeit an seinem Rücken. Verwirrt schaute er sich um, ob Amarelo vielleicht doch gekommen war. Vorher betete er noch: »Herr, mach, dass niemand zu sehen ist.«
Sein Blick streifte zwischen Baumstämmen hindurch, langsam und angespannt, über den gelben Sand, das Flussufer. Er zögerte, auf den Fluss hinauszuschauen. Schließlich tat er es. Nichts. Kein Mensch angelte dort. Weder Amarelo, noch sonst jemand. Er war so froh wie schon lange nicht mehr, streifte seine Hosen ab, das Hemd, und rannte zum Wasser, um Bäume herum, über Wurzeln. Der warme Sand brannte unter seinen Fußsohlen, bevor er sich in den Fluss stürzte, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte. Er schwamm einige Zeit, dann wollte er nach Hause gehen. Es würde sicher nicht einfach sein, seinem Onkel zu sagen, dass er den Auftrag nicht ausgeführt hatte. Doch es war ja nicht seine Schuld. »Amarelo ist nicht gekommen«, würde er seinem Onkel sagen. Er stieg aus dem Wasser und war auf dem Weg zurück in den Urwald, als er eine tiefe Stimme hörte:
»Was machst du denn hier, Junge?«
Es war Amarelo, der in seinem Kanu heranglitt. Júlio traf es wie ein Schlag. Er brachte kein Wort heraus, winkte nur kurz zu Amarelo herüber und verschwand dann im Urwald. Er hatte Schwierigkeiten, die Hose über seinen noch nassen Körper zu streifen. Er nahm sein Hemd in die linke Hand und hängte sich die Flinte über die rechte Schulter, dann rannte er fort, nach Hause zurück. Der Gewehrkolben schlug ihm im Rhythmus seiner Schritte gegen den Rücken. Die Worte seines Onkels fielen ihm ein: »Wenn du Amarelo nicht tötest, werde ich sterben.« Außerdem hatte Gott ihm die Chance gegeben, ganz friedlich nach Hause zu gehen. Wäre er beizeiten gegangen, wäre er Amarelo nicht mehr begegnet. Aber er hatte gewartet, und nun musste er den Auftrag erledigen. Also kehrte er zurück. Es würde schnell gehen: ankommen,
Weitere Kostenlose Bücher