Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition)
von Präsident Reagan vorgebrachte Behauptung eingegangen, eine Drosselung der Steuerprogression – durch Absenken des Spitzensteuersatzes – führe letztlich zu höheren Steuereinnahmen, weil die Ersparnisbildung und die Beschäftigungsrate zunähmen. Er irrte sich: Die Steuereinnahmen gingen deutlich zurück. Den Steuersenkungen von Präsident Bush erging es nicht besser; ganz wie die Reaganschen Steuersenkungen vergrößerten sie nur das Staatsdefizit. Präsident Clinton setzte den Spitzensteuersatz herauf, und die USA erlebten eine Phase starken Wachstums, in der das Verteilungsgefälle leicht abnahm. Natürlich haben die Konservativen Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass die Anreize stark geschwächt würden, wenn der Grenzsteuersatz nahe 100 Prozent liegen würde, aber diese Beispiele zeigen, dass wir nirgendwo auch nur annähernd an dem Punkt sind, wo uns dies Kopfzerbrechen bereiten sollte. Tatsächlich schätzten Emmanuel Saez von der University of California, Thomas Piketty von der Paris School of Economics und Stefanie Stantcheva von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät des MIT nach sorgfältiger Berücksichtigung der Anreizeffekte einer höheren Besteuerung und des gesellschaftlichen Nutzens einer Angleichung der Vermögensverhältnisse, dass der Spitzensteuersatz um die 70 Prozent betragen sollte; auf dem Niveau befand er sich, ehe Präsident Reagan seinen Feldzug für die Reichen begann. 67
Aber selbst diese Berechnungen erfassen den Nutzen einer progressiveren Besteuerung meines Erachtens nicht vollständig, und zwar aus drei Gründen: Erstens erhöht ein Mehr an Gerechtigkeit (und an wahrgenommener Gerechtigkeit) die Produktivität, was in Übereinstimmung
mit den meisten ökonomischen Analysen bei diesen Berechnungen außer Acht gelassen wurde.
Zweitens untergräbt der Eindruck, dass unser ökonomisches und politisches System unfair ist, das Vertrauen in das eine wie das andere, obwohl eben dieses Vertrauen für das Funktionieren unserer Gesellschaft unverzichtbar ist, wie ich im nächsten Kapitel ausführlicher zeigen werde. Ein progressiver gestaltetes Steuersystem könnte ein wenig dazu beitragen, den Glauben an die Gerechtigkeit unseres Systems wiederherzustellen. Gesellschaftlich wie wirtschaftlich würden wir davon enorm profitieren. Drittens gehen niedrige Sätze für Spitzenverdiener einschließlich des Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney ebenso wie die niedrigen Steuersätze auf Veräußerungsgewinne, die großzügige Definition von Veräußerungsgewinnen 68 und die Schlupflöcher in der Körperschaft- und der Einkommensteuer auf Sonderbestimmungen im Steuergesetz zurück. Diese sorgen für Verzerrungen in der Wirtschaft und mindern die Produktivität. So zahlen so viele unserer Großunternehmen zum Beispiel deshalb so wenig Steuern, weil die Gewinne ihrer ausländischen Tochtergesellschaften erst dann besteuert werden, wenn sie ins Inland transferiert werden – was die Firmen dazu ermuntert, im Ausland statt in den Vereinigten Staaten zu investieren. Die Streichung dieser Sonderbestimmungen würde sowohl zu einer differenzierteren Steuerprogression führen als auch der US-Wirtschaft zugute kommen.
Mehr noch: Da die Einkommen der Reichsten aus Renten stammen und es durchaus möglich ist, diese Renten steuerlich abzuschöpfen, ist ein progressiv gestaltetes Steuersystem mit keinerlei negativen Anreizeffekten verbunden.
Die Tatsache, dass Steuersenkungen für die Reichen das Defizit und die Staatsverschuldung deutlich erhöht haben, hat noch einen anderen Effekt: Sie erhöht den Druck, öffentliche Mittel für Investitionen in Bildung, Technologie und Infrastruktur zu kürzen. Die politische Rechte unterschätzt die Bedeutung dieser öffentlichen Investitionen, die nicht nur direkt hohe Renditen abwerfen können, sondern auch die Basis für hoch rentierliche private Investitionen darstellen. Ich erwähnte bereits den Beitrag staatlicher Investitionen zu Forschung und Technik (etwa in Form der ersten Telegraphenlinie, die im neunzehnten Jahrhundert quer durch Nordamerika verlegt wurde, der Entwicklung des Internets und
der Grundlagen für den ersten Browser im zwanzigsten Jahrhundert). Jüngste Forschungen haben ergeben, dass die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg von großen Produktivitätsfortschritten gekennzeichnet waren, die die Voraussetzungen für weitere Produktivitätssteigerungen in den Folgejahren schufen. Und dafür waren unter anderem staatliche Investitionen
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