Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition)
oben nach unten oder in die Mitte umzuverteilen, oder den umgekehrten Weg zu gehen. Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, dass das gegenwärtige Maß an Ungleichheit in den USA ungewöhnlich hoch ist – das gilt im internationalen Vergleich wie in Relation zum früheren Niveau auf nationaler Ebene. Und dazu ist es ungewöhnlich schnell gekommen. Früher einmal hieß es, nach Veränderungen der Ungleichheit Ausschau zu halten, sei so, wie wenn man Gras beim Wachsen zusehen wolle: Auf kurze Sicht ließen sich kaum Veränderungen erkennen. Aber heute stimmt das nicht mehr.
Selbst das, was in der gegenwärtigen Rezession geschieht, ist ungewöhnlich. Bei rückläufiger Konjunktur passen sich Löhne und Beschäftigung in der Regel langsam an, so dass mit sinkenden Umsätzen die
Gewinne überproportional zurückgehen. In dieser Rezession ist indes die Lohnquote gesunken, während viele Firmen satte Gewinne erwirtschaften. 1
Die Bekämpfung der Ungleichheit muss notwendigerweise an mehreren Stellen ansetzen: Wir müssen die Exzesse an der Spitze zügeln, die Mitte stärken und den Unterprivilegierten helfen. Jedes Ziel erfordert einen eigenen Maßnahmenkatalog. Die Erstellung solcher Kataloge setzt jedoch voraus, dass wir die Entstehungsgeschichte jeder Facette dieser ungewöhnlich hohen Ungleichheit genau verstehen. Mag die heutige Ungleichheit auch besonders ausgeprägt sein, so ist Ungleichheit an sich doch nichts Neues. Die Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht war in den vorkapitalistischen Gesellschaften des Westens in vielerlei Hinsicht noch drastischer. Damals erklärte und rechtfertigte die Religion die Ungleichheit: Die Menschen an der Spitze der Gesellschaft verdankten ihre Stellung göttlicher Gnade. Dies infrage zu stellen bedeutete, die Gesellschaftsordnung oder sogar den Willen Gottes infrage zu stellen.
Doch wie für die alten Griechen ist auch für moderne Ökonomen und Politikwissenschaftler Ungleichheit keine Frage einer prädeterminierten Gesellschaftsordnung. Entstanden sind diese Ungleichverteilungen aus Macht – oftmals militärischer Macht. Beim Militarismus ging es um ökonomische Interessen: Die Eroberer hatten das Recht, die Eroberten so weit wie möglich auszubeuten. Die antiken Naturphilosophen sahen kein Unrecht darin, Menschen als bloßes Mittel für die Zwecke anderer zu benutzen. So lautet ein berühmtes Zitat aus dem »Melierdialog« des altgriechischen Historikers Thukydides: »… daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt«. 2 Die Mächtigen benutzten ihre Macht, um ihre wirtschaftliche und politische Stellung auszubauen oder zumindest aufrechtzuerhalten. 3 Sie versuchten auch, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um Einkommensunterschiede, die ansonsten als anstößig gegolten hätten, akzeptabel erscheinen zu lassen.
Als die Idee des Gottesgnadentums in den frühen Nationalstaaten ihre Legitimität einbüßte, suchten die Mächtigen nach anderen Grundlagen, um ihre Positionen zu verteidigen. Mit der Renaissance und der Aufklärung, die beide die Würde des Einzelnen betonten, und der industriellen
Revolution, die zur Entstehung einer riesigen städtischen Unterschicht führte, wurde es zwingend notwendig, neue Rechtfertigungen für Ungleichheit zu finden, insbesondere weil Kritiker des Systems wie Marx von Ausbeutung sprachen. 4
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts setzte sich schließlich die Theorie durch, die noch heute tonangebend ist: die sogenannte Grenzproduktivitätstheorie. Demnach erzielt, wer besonders produktiv ist, auch ein hohes Einkommen, das den besonderen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl widerspiegelt. Wettbewerbsmärkte, die nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage funktionieren, bestimmen den Wert des Beitrags, den jeder Einzelne leistet. Wenn jemand eine knappe, wertvolle Kompetenz besitzt, belohnt ihn der Markt reichlich, weil sein Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Produktion größer als üblich ist. Ist er unqualifiziert, ist sein Einkommen niedrig. Die Produktivität verschiedener Kompetenzen hängt natürlich vom technischen Entwicklungsstand ab: In einer primitiven Agrarwirtschaft zählten Körperkraft und Ausdauer; in einer modernen Hightech-Ökonomie kommt es eher auf Intelligenz an.
Auch die gegenwärtige Ungleichheit wird durch Technologie und Knappheit, die nach den gewöhnlichen Gesetzen von Angebot
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