Der Preis des Lebens
zu brechen. Egal, was der Volksmund über die Nachtgeborenen sagte: Sie waren nicht dümmer oder klüger als die Menschen, die sie vor ihrer Wandlung einmal waren. Und erst recht nicht tapferer . Natürlich: Hätten die anderen sich zusammengerottet, hätte selbst ein erfahrener Kämpfer wie Visco Schwierigkeiten bekommen und auf Dauer keine Chance gehabt. So aber flüchteten die verbliebenen Vampire lediglich den Gang entlang in Richtung Treppe, rannten sich gegenseitig über den Haufen und trachteten fluchend danach, den Keller unter der Ruine so schnell wie möglich zu verlassen. Visco machte noch drei der Flüchtigen von hinten nieder und verfolgte die anderen bis auf die Straße, wo die Vampire sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuten.
Danach kehrte er eilends zur Luke im Boden zurück, schloss sie sorgfältig von innen und tauchte wieder in das schattenreiche Gewölbe unter der Erde ein.
Graubrauner, ascheartiger Staub, zusammengesackte Kleiderhaufen und ein paar Schmuckstücke, Ringe, Degen, Dolche und Amulette bedeckten den Steinboden, wo Visco unter den Vampiren gewütet hatte. Lemis Orasa lag reglos vor dem Kreuz, an dem Lorn nach wie vor mit schmerzverzerrtem Gesicht und halbgeschlossenen Augen hing.
Bei Viscos Eintreten hob der Nachtjäger geschwächt den Kopf und richteten seinen verschleierten Blick auf Visco.
»Willst du mich nicht mal hier runterholen, Scharfzahn?«, nuschelte er undeutlich; seine Zunge stolperte über jeden Buchstaben.
Viscos Rapier durchschnitt die Fesseln, die Lorn an das spalierähnliche Holzgerüst banden.
»Wieso hat das so lange gedauert?«, murmelte der Jagam derweil schläfrig und verzog in stummer Qual das Gesicht.
Visco schwieg, bis er den letzten Strick durchschnitten hatte und Lorn sanft herunternahm. Dank seiner Kräfte hatte er keine Mühe, den Jagam behutsam zu Boden zu legen.
»Wieso das so lange gedauert hat?« Visco verzog die Lippen zu einem Grinsen und präsentierte seinem Partner zwei spitze Eckzähne. »Ich musste erst sicher gehen, dass sie keinen anderen Jagam opfern wollen ...«
Lorn sagte nichts mehr. Nur einmal, als Visco sich den Jagam und dessen Ausrüstung längst auf die Arme geladen hatte und durch den niedrigen Gang auf Treppe und Luke zu trug, vermeinte der bekehrte Vampir noch ein gemurmeltes Wort über Lorns aufgeplatzte Lippen rollen zu hören:
»Freunde ...«
Kapitel VI: Zwischen Gestern und Morgen
1.
Schweigen lag wie dunkler Qualm über den drei Männern.
»Es ist lange her«, sagte schließlich einer von ihnen, um die drückende Stimmung zu durchbrechen.
Visco DeRául nickte. Obwohl es ihm manchmal wie gestern vorkam, dass er auf Nugals Pritsche ein Stockwerk über ihnen gelegen und sich später hin und her geworfen und für zehn Leben und Unleben gelitten hatte, um vom Fluch des Vampirs befreit zu werden und den Preis des Lebens zu zahlen, schien es an anderen Tagen eine ganze Ewigkeit her, ja ein sprichwörtlich anderes Leben gewesen zu sein.
Der Vampir musterte den greisen Zauberer, der ihn seinerzeit mit dem Ritual ein neues Dasein jenseits der ewigen Gier ermöglicht hatte: Nugal hatte sich kaum verändert, sah man einmal von ein paar zusätzlichen Falten im Gesicht und einem etwas helleren Grau seiner Haare ab.
»Ja.« Visco nickte zustimmend. »Vier Jahre und ein paar Wochen, wenn mich nicht alles täuscht.«
Lorn sagte nichts – allerdings war leichte Konversation nun ohnehin nicht gerade eine seiner größten Stärken.
»Ihr fragt Euch sicher, wieso ich nach Euch geschickt habe«, intonierte Nugal nach einer Weile bedächtig. Gleichzeitig griff er nach der Weinflasche, die in der Mitte des Tisches stand. Lorn und der Zauberer saßen jeweils am Kopf der kleinen Tafel im Untergeschoss von Nugals trutzigem Stadthaus, Visco zwischen beiden an der Längsseite auf der Eckbank an der Wand.
Der Vampir blickte auf die Weinflasche, die ein Diener vorhin gebracht hatte, und dachte an die Begegnung mit einem anderen von Nugals Bediensteten. Das Grinsen, das sich dabei auf seine Züge schlich, verbarg Visco, indem er seinen silbernen Trinkpokal an die Lippen setzte.
Lorn hatte Nugals Boten kurzerhand verprügelt , als dieser ihn am Tresen der Flüsternden Flöte unverblümt von hinten eine Hand auf die verwundete Schulter gelegt hatte.
Inzwischen konnte der junge Mann, der sich sonst um Nugals Einkäufe kümmerte, zumindest wieder alleine zum Abort gehen. Beim Aufstehen benötigte er allerdings nach wie vor Hilfe. Die Vorfälle im Gewölbe
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