Der Prophet
Herzen ungesagt. Denn sein tieferes Geheimnis war ihm unaussprechlich.
Und als er in die Stadt kam, strömte ihm alles Volk entgegen, und wie mit einer einzigen Stimme riefen sie ihn an.
Und die Stadtältesten traten vor und sagten:
Geh noch nicht von uns.
Ein Mittag bist du in unserer Dämmerung gewesen, und deine Jugend hat uns Träume zum Träumen gegeben.
Kein Fremder bist du unter uns und auch kein Gast, sondern unser Sohn und unser herzlich Geliebter.
Dulde es noch nicht, dass unsere Augen nach deinem Antlitz hungern müssen.
Und die Priester und die Priesterinnen sprachen zu ihm:
Lasse es nicht zu, dass die Wellen der See uns jetzt trennen und dass die Jahre, die du in unserer Mitte verbracht hast, zur
bloßen Erinnerung werden.
Du bist als ein Geist unter uns gewandelt, und dein Schatten ist ein Licht für unsere Augen gewesen.
|12| Innig haben wir dich geliebt. Doch sprachlos ist unsere Liebe gewesen und in Schleier gehüllt.
Jetzt aber schreit sie laut auf zu dir und möchte unverschleiert vor dir stehen.
Denn stets ist es so, dass die Liebe ihre eigene Tiefe nicht kennt – bis zur Stunde der Trennung.
Und es traten auch andere vor und flehten ihn an. Doch er gab keine Antwort. Er neigte nur den Kopf; und wer nah bei ihm stand,
sah, dass ihm Tränen auf die Brust tropften.
Und er und die Menschen begaben sich zum großen Platz vor dem Tempel.
Und da trat aus dem Heiligtum eine Frau, deren Name al-Mitra war. Und sie war eine Seherin.
Und er blickte sie mit innigster Zärtlichkeit an, denn sie war die Erste, die ihn aufgesucht und an ihn geglaubt hatte, als
er gerade einen Tag in ihrer Stadt gewesen war.
Und sie grüßte ihn und sagte:
Prophet Gottes, auf der Suche nach dem Allerhöchsten, lang hast du nach deinem Schiff Ausschau gehalten.
Und jetzt ist dein Schiff angekommen, und du musst uns verlassen.
|13| Tief ist deine Sehnsucht nach dem Land deiner Erinnerungen und dem Wohnort deiner größeren Wünsche; und unsere Liebe vermag
dich nicht zu binden noch unsere Not dich zu halten.
Doch darum bitten wir dich, ehe du uns verlässt, dass du zu uns sprichst und uns von deiner Wahrheit gibst.
Und wir werden sie an unsere Kinder weitergeben und sie an ihre Kinder, und deine Wahrheit soll nicht untergehen.
In deinem Alleinsein hast du mit unseren Tagen gewacht, und in deinem Wachsein hast du dem Weinen und dem Lachen unseres Schlafes
gelauscht.
Enthülle uns jetzt also und erzähle uns alles, was dir von dem offenbart wurde, was zwischen Geburt und Tod liegt.
Und er antwortete:
Menschen von Orfalîs, wovon könnte ich schon sprechen außer von dem, was in diesem Moment eure Seelen bewegt?
|14|
Von der Liebe
Da sagte al-Mitra: Sprich zu uns von der Liebe.
Und er hob den Kopf und blickte auf die Menschenmenge, und es verstummten alle. Und er sagte mit mächtiger Stimme:
Wenn die Liebe euch ruft, folgt ihr,
Auch wenn ihre Pfade beschwerlich und steil sind.
Und wenn ihre Schwingen euch umfangen, gebt euch ihr hin,
Auch wenn das Schwert zwischen ihren Fittichen euch verwunden mag.
Und spricht sie zu euch, schenkt ihr Glauben,
Auch wenn ihre Stimme eure Träume zerschlagen mag, so wie der Nordwind den Garten verwüstet.
Denn so wie die Liebe euch krönt, wird sie euch kreuzigen. So wie sie euer Wachstum befördert, stutzt sie auch euren Wildwuchs.
Ebenso wie sie zu euren Gipfeln emporsteigt und eure zartesten Zweige liebkost, die im Sonnenlicht zittern,
Wird sie zu euren Wurzeln hinabsteigen und sie erschüttern in ihrem Erdverhaftetsein.
|15| Wie Garben sammelt sie euch und drückt sich euch an die Brust.
Sie drischt euch, um euch zu entblößen.
Sie siebt euch, um euch von eurer Spreu zu befreien.
Sie mahlt euch blütenweiß.
Sie knetet euch, bis ihr geschmeidig seid;
Und dann überantwortet sie euch ihrem heiligen Feuer, damit ihr heiliges Brot für Gottes heiliges Festmahl werdet.
All das wird die Liebe euch antun, damit ihr die Geheimnisse eures Herzens erkennt und in diesem Erkennen zu einem Bruchteil
vom Herzen des Lebens werdet.
Solltet ihr aber aus Angst nur den Frieden der Liebe und die Freuden der Liebe erstreben,
Dann ist es besser für euch, wenn ihr eure Blöße bedeckt und die Tenne der Liebe verlasst und hinaustretet
In die Welt ohne Jahreszeiten, wo ihr lachen werdet, aber nicht all euer Lachen, und weinen, aber nicht all eure Tränen.
Die Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von
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