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Der Prophet

Titel: Der Prophet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khalil Gibran
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Schilfrohr, stumm und schweigsam, wenn alles andere im Chor zusammen singt?
    Von jeher habt ihr gehört, Arbeit sei ein Fluch und Mühsal ein Unglück.
    Ich aber sage euch: Wenn ihr arbeitet, erfüllt ihr einen Teil des kühnsten Traums der Erde, der euch anvertraut wurde, als
     dieser Traum entstand,
    Und indem ihr euch Mühsalen unterzieht, erweist ihr dem Leben eure Liebe,
    |28| Und das Leben durch die Arbeit lieben heißt, mit dessen innerstem Geheimnis eins zu sein.
     
    Aber wenn ihr in eurem Schmerz die Geburt eine Heimsuchung nennt, und die Erhaltung des Fleisches einen Fluch, der euch auf
     die Stirn geschrieben wurde, dann antworte ich, dass einzig der Schweiß eurer Stirn das, was geschrieben steht, tilgen wird.
     
    Ihr habt auch gehört, das Leben sei Finsternis, und in eurer Kraftlosigkeit sprecht ihr es den Kraftlosen nach.
    Und ich sage, dass das Leben in der Tat Finsternis ist, wenn ohne Verlangen,
    Und alles Verlangen blind, wenn ohne Wissen,
    Und alles Wissen eitel, wenn ohne Arbeit,
    Und alle Arbeit leer, wenn ohne Liebe;
    Und wenn ihr mit Liebe arbeitet, verbindet ihr euch mit euch selbst und einander und Gott.
     
    Und was bedeutet, mit Liebe zu arbeiten?
    Es bedeutet, den Stoff aus Fäden zu weben, die ihr eurem Herzen entspinnt, gerade so, als wäre der Stoff für euren Geliebten
     zum Tragen bestimmt.
    Es bedeutet, ein Haus mit Zuneigung zu bauen, gerade so, als wäre das Haus für eure Geliebte zum Wohnen bestimmt.
    Es bedeutet, die Saat mit Zärtlichkeit zu säen und |29| den Acker mit Freude abzuernten, gerade so, als wären die Feldfrüchte für eure Geliebten zur Speise bestimmt.
    Es bedeutet, jedem Ding, das ihr schafft, etwas von eurem Geist einzuhauchen,
    Und zu wissen, dass alle seligen Toten um euch stehen und zuschauen.
     
    Oft habe ich euch sagen hören, als redetet ihr im Schlaf: »Wer mit Marmor arbeitet und im Stein die Gestalt seiner eigenen
     Seele entdeckt, ist edler als der, der den Boden pflügt.
    Und wer den Regenbogen einfängt und ihn zum Ebenbild des Menschen auf eine Leinwand legt, steht höher als der, der die Sandalen
     für unsere Füße fertigt.«
    Ich aber sage euch – nicht im Schlaf, sondern in der vollkommenen Wachheit des Mittags   –, dass der Wind zu den riesigen Eichen nicht lieblicher spricht als zum dürftigsten Grashalm;
    Und der allein ist groß, der die Stimme des Windes in ein Lied verwandelt, das durch seine Liebe noch lieblicher wird.
     
    Arbeit ist sichtbar gewordene Liebe.
    Und wenn ihr nicht mit Liebe arbeiten könnt, sondern nur mit Widerwillen, dann ist es besser, wenn ihr eure Arbeit aufgebt
     und euch an das Tempeltor setzt und von denen Almosen annehmt, die mit Freude arbeiten.
    |30| Denn wenn ihr mit Gleichgültigkeit backt, backt ihr ein bitteres Brot, das den Hunger des Menschen nur zur Hälfte stillt.
    Und presst ihr widerstrebend die Trauben, träufelt euer Widerstreben Gift in den Wein.
    Und singt ihr wie mit Engelszungen und liebt doch den Gesang nicht, so verstopft ihr die Ohren der Menschen für die Stimmen
     des Tages und die Stimmen der Nacht.

|31|
Von der Freude und vom Leid
    Dann sagte eine Frau: Sprich zu uns von der Freude und vom Leid.
    Und er antwortete:
    Eure Freude ist euer entschleiertes Leid.
    Und derselbe Brunnen, dem euer Lachen entsteigt, war oftmals mit euren Tränen gefüllt.
    Und wie könnte es auch anders sein?
    Je tiefer sich jenes Leid in euer Wesen gräbt, desto mehr Freude könnt ihr fassen.
    Ist nicht der Becher, der euren Wein enthält, derselbe Becher, der im Töpferofen glühte?
    Und ist nicht die Laute, die eure Seele erfreut, eben das Holz, das Messerklingen höhlten?
    Wenn ihr glücklich seid, blickt tief in euer Herz, und ihr werdet erkennen, dass gerade das, was euch leiden ließ, euch jetzt
     Freude schenkt.
    Wenn ihr bekümmert seid, blickt abermals in euer Herz, und ihr werdet sehen, dass ihr in Wahrheit über das weint, was zuvor
     eure Freude war.
     
    |32| Manche von euch sagen: »Die Freude wiegt schwerer als das Leid«, und andere sagen: »Nein, schwerer wiegt das Leid.«
    Ich aber sage euch: Die beiden sind untrennbar.
    Sie kommen stets gemeinsam, und sitzt nur das eine mit euch an eurem Tisch, vergesst nicht, dass das andere auf eurem Bett
     schläft.
     
    Wahrlich, ihr hängt wie eine Waage zwischen eurem Leid und eurer Freude.
    Nur wenn ihr leer seid, schwebt ihr reglos und im Gleichgewicht.
    Wenn der Schatzhüter euch hebt, um sein Gold und sein Silber zu wägen, können eure

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