Der Puppenfänger (German Edition)
gesetzt, und ihr Vater, der in ständiger Sorge um sie war, seitdem sie die Detektei betrieb, hatte wahrscheinlich spätestens am Nachmittag Dieter angerufen. Stellten sich lediglich die Fragen, ob es bereits Abend war und wie lange es dauern würde, bis Dieter reagierte, die richtigen Schlüsse aus ihrem Verschwinden zog und bis ihr Kommissar oder ein anderer seines Teams sie aus ihrer misslichen Lage befreite.
Mit Überlegungen, wie viele Stunden oder Tage sie ohne Wasser in diesem Verlies gefesselt überleben würde, wollte sie sich nicht beschäftigen. Ihre Grübeleien brachten sie wider Willen zu dem ermordeten Gerald Schöllen und seinem Halbbruder Gunnar Laxhoff, die, wollte sie Beates Erzählungen glauben, in einer ähnlichen Situation gewesen waren. Beide hatten ihre Gefangenschaft nicht überlebt, weil der Apotheker Tommy Orthes sie erschossen hatte, bevor sie verdurstet waren. Dagegen durfte man ihre augenblickliche Lage fast als komfortabel bezeichnen. Es musste ihr lediglich gelingen, wach zu bleiben, damit sie gleich um Hilfe rufen konnte, sobald sich oberhalb des Kellerschachtes oder an der Haustür etwas regte. Konnte es möglich sein, dass durch die Wände des Hauses und durch das Kellerfenster gar keine Geräusche nach draußen drangen? Ihre Handtasche stand oben in der Diele auf dem Garderobentisch. Miss Marple lag zwar in der Tasche, war allerdings nicht eingeschaltet und somit ebenso unauffindbar wie sie selbst. Ihr Wagen parkte vor der Haustür. Das wusste sie sicher, weil sie den Autoschlüssel in die Tasche ihres Blazers gesteckt hatte. Da Beate ihr den Schlüssel nicht abgenommen hatte, konnte sie auch das Auto nicht weggefahren haben. Irgendwann musste sogar der Einfältigste darauf kommen, während der Suche nach ihr auch bei ihrer Auftraggeberin Beate Buttenstett vorbeizuschauen, tröstete sie sich. Man würde ihren Golf sehen – man würde an der Haustür klingeln! Man würde –! Oder würde man nicht?
Momentan war sie noch nicht einmal imstande, die selbstgestellte Frage, seit wann sie allein in diesem Kellerraum hockte, zu beantworten. Dabei konnte sie sich an jedes Wort, das Beate gesagt hatte, erinnern. Beate hatte nicht allein über ihre längst geplante Flucht berichtet. Sie hatte auch von den Videokameras erzählt, die − für einen Fremden nicht sichtbar − im Pfeiler der Toranlage, am Haustüreingang und unter dem Garagendach angebracht waren und sie jederzeit wissen ließen, wer sich auf dem Grundstück aufhielt. Zumindest wusste Heide jetzt, dass sie sich das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht eingebildet hatte, dachte sie, ehe sie erneut einschlief.
Sie wurde wach, weil sich etwas Warmes auf ihre Wange legte, anschließend über ihre Stirn strich und auf ihrem Haar liegen blieb. Als sie die Lider aufschlug, sah sie in Dieters knallblaue Augen, in denen zu ihrer Überraschung Tränen standen. »Alles wird gut«, sagte er.
»Happy End, Kommissar?«
»Worauf du dich verlassen kannst!«
EPILOG
H ERBST 2011
Sie wollten den freien Tag genießen, es sich richtig gemütlich machen und den Vormittag im Bett verbringen. Die geöffnete Sektflasche wartete trinkbereit auf dem Nachttisch, neben zwei halbgefüllten Gläsern. Dahinter stand Dieters Monats-Joke, ein ausgefranstes Schokoladen-Scrabble, dessen leckerste Teile Heide gleich zum Beginn des Spiels mit Genuss verspeist hatte, um die Quälerei schnellstens zu einem Abschluss zu bringen.
Sie hasste Scrabble mit derselben Leidenschaft, mit der sie das Pokerspiel liebte.
Damit sie nicht so häufig aufstehen mussten, um in der Küche Kaffee nachzuschenken, tranken sie ihn aus Dieters Samson-Tassen, die sich auch hervorragend zum Löffeln einer Suppe eigneten. Während Dieter das vollbepackte Frühstückstablett auf seinen Knien balancierte, zwei Brötchenhälften mit Butter bestrich und mit Käse belegte, suchte Heide in der Lokalzeitung nach einem Bericht, dessen Inhalt sie im Großen und Ganzen bereits kannte.
» Geflohene Emsländerin konnte auf Mallorca gefasst werden «, las sie laut. » Wie die Staatsanwaltschaft in Osnabrück gestern mitteilte, wurde die Frau am Flughafen der Baleareninsel verhaftet. Der zuständigen Kripo in Lingen gelang es, ihre Fluchtroute nachzuverfolgen. Sie alarmierte daraufhin die spanische Polizei. «
»Der Prozess gegen Thomas Orthes beginnt in vierzehn Tagen vor dem Landgericht in Osnabrück«, sagte Dieter.
»Ihn erwartet eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren«, erwiderte Heide.
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