Der Puppengräber
Sommer, der fünf Menschenleben gekostet hat. Es wurde viel darüber geredet, zu viel diskutiert, gestritten, spekuliert und Schuld zugewiesen. Alte Feindschaften flammten neu auf, alte Freundschaften verbrannten in der Glut. Jeder im Dorf wusste etwas, und jeder, der bis dahin geschwiegen hatte, riss das Maul auf, als nichts mehr zu ändern war.
Ich habe mit allen gesprochen, die noch reden konnten. Ich habe mir ihre Erklärungen, ihre Entschuldigungen und ihre faulen Ausreden angehört. Ich habe ihre Versäumnisse gesehen und ihre Irrtümer erkannt. Nun will ich für den sprechen, der niemandem sagen konnte, was er fühlte. Für Ben.
Es wird nicht leicht, das weiß ich. Es gab nicht für alles Zeugen. Trotzdem bin ich sicher, dass auch die Situationen, die niemand beobachtet hat, sich in etwa so abgespielt haben, wie ich sie schildern werde. Warum sollte ein Mensch mit beschränkten intellektuellen Fähigkeiten ausgerechnet in den entscheidenden Momenten sein Verhalten ändern?
Über mich gibt es dabei nicht viel zu sagen. Ich war das Schlusslicht, nur eine Randfigur mit einer erfolglosen Rolle in einem Zwischenakt und am Ende die ermittelnde Hauptkommissarin Brigitte Halinger. Im Sommer 95 war ich dreiundvierzig Jahre alt, verheiratet und Mutter eines siebzehnjährigen Sohnes. Das ist vermutlich mein Problem bei der Sache.
Ich fühle mit seiner Mutter – Trude Schlösser. Auch wenn ich ihr Verhalten nicht billige, verurteilen kannich sie nicht. Und am Ende gelang es ihr, ungeachtet der Konsequenzen, die es für sie hatte, über den eigenen Schatten zu springen und sich selbst anzuklagen. Für ihr Geständnis bin ich Trude zu großem Dank verpflichtet. Nur ihre schonungslose Offenheit versetzte mich in die Lage, den Fall zu klären und nun Bens Geschichte publik zu machen. Und an die Öffentlichkeit muss sie gebracht werden. Vielleicht hilft es mir, mein eigenes Entsetzen zu verarbeiten. Vielleicht vergehen dann die Albträume, die mich auch nach all der Zeit noch nachts aus dem Schlaf reißen.
In diesen Träumen begleite ich ihn auf seinen Runden durchs Feld. Ich liege von Gestrüpp verborgen auf dem Bauch, spähe mit ihm durch das Fernglas, fiebere mit ihm den jungen Mädchen entgegen. Ich schaue über seine Schulter, wenn er den Spaten ansetzt. Dann wache ich schweißgebadet auf und frage mich, wie ich ihn eingeschätzt hätte, wäre ich ihm in diesen furchtbaren Sommerwochen begegnet, womöglich noch in der Nacht – auf einem einsamen Feldweg.
Zweiundzwanzig war er in dem Sommer. Ein riesiger Kerl, massig und schwer, mit einem sanften Blick und dem IQ eines zweijährigen Kindes. Er trug immer ein Fernglas vor der Brust, einen Klappspaten am Taillenriemen, meist ein Messer in der Hosentasche. Hätte ich ihn gefürchtet? Oder hätte ich gedacht wie viele andere, zweijährige Kinder sind harmlos, sie nehmen allenfalls ihr Spielzeug auseinander.
Dass er Puppen zerriss, war allgemein bekannt. Es wussten auch viele, dass er ständig unterwegs war in seinen dunkelblauen Anzügen. Nicht die eleganten mit den weißen Hemden. Er trug nur die bequemen mit Gummizügen um Taille und Fußknöchel. Damit war er unabhängig, konnte seine Notdurft im Freien verrichten.
Es gab schon früh einige im Ort, die ihre Nasen rümpften und sagten: «Es ist eine Schande, dass die den so laufen lassen.» Aber eine Gefahr sahen nur wenige in ihm. Vielleicht wäre er in einer Großstadt gar nicht aufgefallen, da laufen viele merkwürdige Gestalten herum. In einem Dorf jedoch, wo jeder mit argwöhnischen Augen nach nebenan schaut …
Dörfer haben ihre eigenen Gesetze. Es geschieht eine Menge, und man lässt es nicht gerne nach außen dringen. Man weiß, welchen Dreck der Nachbar unter den Teppich kehrt, und oft genug ist man ihm beim Kehren behilflich. Anschließend klopft man sich auf die Schulter und sagt: «Schwamm drüber.» Zu ihm konnte man das nicht sagen. Er hätte es nicht verstanden.
Und niemand verstand ihn. Es war eine lange Kette von Missverständnissen und sinnlosen Bestrafungen, die ihn zu dem machten, was er im Sommer 95 war – der Puppengräber.
12. AUGUST 1995
Marlene Jensen hatte noch etwa sieben Stunden zu leben, als ihr Vater um neunzehn Uhr die Wohnung verließ. Der Apotheker Erich Jensen war Mitglied der SPD und saß im Stadtrat von Lohberg. Er wollte an diesem Samstagabend einige Parteifreunde überzeugen, bei der nächsten Stadtratssitzung ein bestimmtes Thema erneut zur Debatte zu stellen
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