Der Puppengräber
Wochenende war er nur selten zu Hause, und selbst wenn, war kaum anzunehmen, dass er einem vorbeifahrenden Auto eine besondere Bedeutung beimaß.
Etwa fünfhundert Meter hinter der Kreuzung kam der Wagen abrupt zum Stehen. Kaum hatte Eddi die Scheinwerfer gelöscht und den Motor abgestellt, sprang er vom Fahrersitz und quetschte sich ebenfalls auf die Rückbank. Marlene kämpfte mit allen Kräften gegen beide Männer, biss und kratzte, büßte ein Büschel Haare ein und zwei sternförmige Nieten ihrer Jeanshose. Unentwegt sagte einer von beiden: «Hab dich nicht so.» Aber schließlich sahen Klaus und Eddi ein, dass sie ihr Ziel nur mit Gewalt erreichen konnten.
Ehe Marlene sich versah, fand sie sich auf dem Feldweg wieder. Die hellblaue Blousonjacke und ihre Handtasche wurden ihr hinterhergeworfen. Der Wagen brauste davon.
Ihre Erleichterung hielt nicht lange vor. Es war eine finstere Gegend. Die Wege draußen waren in relativ gutem Zustand. Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht.Es hätte sich nicht gelohnt für drei noch dazu weit verstreute Anlieger auf dieser Seite des Ortes. Die Höfe von Richard Kreßmann und Dieters Vater Bruno Kleu lagen auf der anderen Seite des Dorfes.
Etwa fünfhundert Meter zurück stand der Bungalow des alten Rechtsanwalts. Zu sehen war davon nichts in der Dunkelheit. Von der Wegkreuzung waren es weitere achthundert Meter bis zum Hof ihres Onkels. In der entgegengesetzten Richtung führte der Weg an offenen Gärten, Zäunen und Mauern vorbei. Es waren große Grundstücke, die darauf erbauten Häuser lagen an der Bachstraße und waren kaum auszumachen. Nur vereinzelt schimmerte noch ein erleuchtetes Fenster in die Nacht. Nach anderthalb Kilometern kam eine zweite Wegkreuzung, von der aus man nach links auf die Bachstraße und nach rechts zum Anwesen von Jakob und Trude Schlösser gelangte. Von der Bachstraße bis zur elterlichen Wohnung am Marktplatz war es noch einmal ein guter Kilometer. Der Weg zum Hof ihres Onkels war kürzer.
Unbehaglich zog Marlene die Schultern zusammen, hob Jacke und Tasche vom Boden auf, zog die Jacke an und setzte sich in Bewegung. Es war unheimlich. Linker Hand die Felder, rechter Hand lag eine von hohem Stacheldraht umzäunte Wiese, auf der drei Dutzend Apfelbäumchen zwischen teilweise hüfthohem Unkraut wuchsen. Daran schloss sich ein völlig verwildertes Stück Land an, ein ehemaliger Garten, um den sich seit Jahren niemand mehr gekümmert hatte. So war aus ein paar Brombeersträuchern ein undurchdringlicher, dorniger, hauptsächlich mit Nesseln durchsetzter Urwald geworden.
Marlene Jensen atmete durch, als sie diese Wildnis endlich hinter sich gelassen hatte und das riesige Maisfeld ihres Onkels erreichte, das Heinz Lukkas Grundstückan der Wegkreuzung von zwei Seiten umschloss. Und dann war er plötzlich hinter ihr, ein riesiger Schatten. Er näherte sich mit raschen, aber fast lautlosen Schritten. Marlene bemerkte ihn erst, als er mit einer Hand in ihr langes Haar griff. «Fein», sagte er.
Nachdem Marlene die Erstarrung abgeschüttelt hatte, schlug sie mit beiden Händen nach hinten und veranlasste ihn damit, ihre Haare loszulassen. Dann fuhr sie wütend zu ihm herum und schrie ihn an: «Bist du bescheuert, mich so zu erschrecken?»
Angst hatte Marlene Jensen in diesem Moment wahrscheinlich nicht. Es war nur Ben, der Sohn von Jakob und Trude Schlösser, furchteinflößend mit seiner massigen Gestalt und seiner äußeren Aufmachung, aber völlig harmlos. Seine Mutter und ihre Tante Antonia betonten das ständig. Er ließ erneut seine Finger durch ihr Haar gleiten. «Fein», sagte er noch einmal.
«Lass das, du Idiot!», schrie Marlene.
Er zog seine Hand zurück. «Finger weg?», fragte er.
«Ja, genau», sagte Marlene in etwas gemäßigterem Ton. «Finger weg. Mach das nicht nochmal.» Dann drehte sie sich um und ging weiter auf die Wegkreuzung zu. Er folgte ihr.
«Finger weg», sagte er wieder. Diesmal klang es nicht nach einer Frage. Er griff nach ihrer Schulter. Marlene schüttelte seine Hand ab und begann zu laufen. Er hielt sich neben ihr, packte ihren Arm und zerrte daran, dass er sie beinahe zu Boden riss. Jetzt schrie er: «Finger weg!»
Ein Fetzen ihrer Jacke blieb in seiner Hand zurück, als Marlene ihren Arm mit einem Ruck aus seinem Griff befreite. Sie rannte schneller. Er überholte sie, baute sich breitbeinig vor ihr auf und spreizte die Arme, um ihr den Weg zu versperren. «Finger weg!», schrie er zum vierten Mal.
«Hau
Weitere Kostenlose Bücher