Der Rabbi
Leslie, fiel ihm ein, würde neben dem Grab stehen. Er versuchte, sich hindurchzudrängen.
»Verzeihung ... Entschuldigen Sie.« Eine Frau sah ihn böse an.
»Ich gehöre zur Familie«, flüsterte er.
Aber die Leute standen zu dicht, es gab kein Durchkommen. Er hörte den Pfarrer den Segen sprechen. »Der Friede Gottes, der über allem menschlichen Verstand ist, bewahre eure Herzen und eure Sinne in der Liebe Gottes und seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn. Der Segen Gottes des Allmächtigen, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes sei mit euch und behüte euch auf allen Wegen.«
Aber Michael konnte nicht sehen, welcher der drei Geistlichen sprach, konnte nicht sehen, wer am Grab stand, und er begriff, daß er ebensogut im B'nai B'rith-Friedhof hätte bleiben können. Plötzlich sah er sich selbst am Zaun stehen, die Nase ans Gitter gepreßt, und das Begräbnis beobachten, ein einsamer, aber nicht minder trauriger Trauergast, und gegen seinen Willen und trotz all seiner Verzweiflung spürte er etwas glucksend in sich aufsteigen: ein fast unbezwingliches Bedürfnis, laut herauszulachen, sich vor Lachen zu schütteln, während nur wenige Meter von ihm entfernt sein Schwiegervater der Erde überantwortet werden sollte. Er grub die Fingernägel in seine zerschundenen Handflächen, aber dann beugten sich die Häupter vor ihm, und er konnte sehen, daß es der junge Geistliche war, der das Begräbnis zelebrierte. Neben dem Grab standen lauter fremde Menschen. O Gott! schrie es in ihm.
Wo bist du, Leslie?
45
Als sie dem Zug in der Grand Central Station entstieg, ging sie direkt ins Hotel und nahm dort ein Zimmer, das kleiner war als jenes, das sie im Woodborough-YWCA gehabt hatte, aber keineswegs so sauber, mit halbvollen Gläsern und sonstigem Zeug, das überall umherstand, und schmutzigen Handtüchern auf dem Badezimmerboden. Der Zimmerkellner versprach, er werde sofort jemanden schicken, aber als nach fast einer Stunde noch immer niemand gekommen war, wurde ihr die Unordnung zuviel. Sie ließ den Besitzer kommen und machte ihm klar, daß sie für vierzehn Dollar siebzig pro Tag wohl Anspruch auf ein sauberes Zimmer habe. Gleich darauf erschien das Mädchen.
Sie speiste allein zu Abend in Hector's Cafeteria, gleich gegenüber von Radio City. Das war noch immer ein ordentliches Lokal, in dem man ungestört essen konnte. Sie war schon beim Dessert, als ein fremder Mann mit ihr anzubändeln versuchte. Er war höflich, nicht gerade abstoßend und vielleicht ein wenig jünger als sie, aber sie nahm ihn nicht zur Kenntnis, aß ruhig ihren Schokoladepudding auf und verließ dann das Lokal. Als er sich aber anschickte, ihr zu folgen, verlor sie die Geduld und wandte sich zu dem an einem türnahen Tisch sitzenden Polizisten, der eben sein Gebäck in den Kaffee tauchte. Sie fragte ihn nach der Zeit, wobei sie ihren Verfolger fixierte. Der drehte sich um und war im Nu über die Treppe zum Oberstock des Lokals verschwunden.
Sie begab sich zurück zum Hotel, halb ärgerlich, halb geschmeichelt, und ging früh zu Bett. Die Wände waren sehr dünn, und sie hörte das Paar im Nachbarzimmer der Liebe obliegen. Die beiden machten es sehr ausführlich, und die Dame war ziemlich laut und stieß fortwährend spitze, schrille Schreie aus. Obgleich der Mann sich ruhig verhielt, ließ der Lärm, den das Bett und die Dame machten, Leslie keinen Schlaf finden. Erst gegen Morgen schlummerte sie ein, doch auch da nur für kurze Zeit, denn um fünf Uhr morgens ging es abermals los, so daß ihr nichts übrigblieb, als zuzuhören.
Aber draußen wurde es heller und heller, und als die Sonne über den Dächern erschien, begann Leslie sich besser zu fühlen. Sie öffnete das Fenster und sah über das Fensterbrett gelehnt auf die New Yorker hinunter, wie sie tief unten die Gehsteige überschwemmten. Sie hatte schon fast vergessen, wie aufregend Manhattan sein konnte, und so verspürte sie der. Wunsch, auszugehen und es wieder zu erleben. Sie machte sich fertig, ging hinunter, frühstückte in einem Child's-Lokal und las dort die New York Times, wobei sie sich in die Rolle einer Büroangestellten versetzte, die auf dem Weg zum Arbeitsplatz war.
Nach dem Frühstück ging sie durch die 42nd Street bis zu dem alten Haus, in dem die Redaktion gewesen war, aber die gab es nicht mehr. Sie betrat den Times-Turm, suchte im Telephonbuch danach und sah, daß die Zeitung in die Madison Avenue übersiedelt war. Jetzt erst fiel ihr ein, daß
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