Der Rabbi
dazwischen, und er fuhr auf dem einen Weg immer geradeaus, und dann noch auf ein paar anderen Wegen in verschiedenen anderen Richtungen, immer nach dem Leichenzug Ausschau haltend. Die Wege waren von Schnee gesäubert und gut gestreut.
Aber er sah nichts als Grabsteine und keinen Menschen. Schließlich entdeckte er einen Mogen Dovid, dann noch einen, und er verlangsamte das Tempo und las einige der Inschriften:
Israel Salitsky, 2. Februar 1895 - 23. Juni 1947
Jacob Epstein, 3. September 1901-7. September 1962
Bessie Kahn, 17. August 1897 -12. Februar 196o.
Unserer guten Mutter.
Oi, haben Sie sich im Friedhof geirrt!
Er hielt an und blieb im Wagen sitzen, von dem heftigen Wunsch beseelt, aufzugeben und nach Hause zu fahren. Aber wenn sie doch da wäre, beim Grab?
Er fuhr noch einen Gräberblock weiter, und dort traf er auf einen alten Mann in langem braunem Mantel, der, eine schwarze Zipfelmütze über die Ohren gezogen, auf einem Klappstühlchen neben einem der Grabhügel hockte. Michael hielt neben ihm an. »An guten Tag.«
Der Mann nickte und sah Michael über die Hornbrille hinweg an, die ihm tief auf der Nase saß.
»Wie komm ich da zum Grace Cemetery?«
»Der für die sch'kozim ist das nächste Tor. Das hier ist B'nai B'rith.«
»Gibt's eine Verbindung zwischen den beiden?«
Der Mann hob die Schultern und deutete nach vorn. »Vielleicht dort am End.« Und er blies in seine Hände, die keine Handschuhe trugen.
Michael zögerte. Warum saß der Alte hier, neben dem Grab? Er konnte sich nicht entschließen, zu fragen. Seine Handschuhe lagen neben ihm auf dem Beifahrersitz. Ohne es irgendwie beabsichtigt zu haben, hielt er sie dem Alten durch das Wagenfenster hin. »Morgen wird's wärmer sein«, sagte Michael und ärgerte sich gleichzeitig über seine eigenen Worte.
»Gott ze danken.«
Er startete den Wagen und fuhr weiter. Gräber zu beiden Seiten des Weges, so weit das Auge reichte; eine grenzenlose Totenwelt, in der sich Michael wie ein malach-hamowess fühlte, wie ein Totenengel des Maschinenzeitalters.
Schließlich kam das Ende des Friedhofs in Sicht. Eine Fahrstraße führte bis zu einem Gitterzaun, auf dessen anderer Seite Michael die Trauergemeinde stehen sah, im Begriff, seinen Schwiegervater in die Erde zu senken.
Er hielt den Wagen an. Der Zaun hatte kein Tor. War denn wirklich eine unübersteigbare Absperrung notwendig, um auch noch Staub von Staub, Seelen von Seelen zu trennen, fragte sich Michael wütend.
Sollte er zurückfahren? Die ganze lange Strecke zurück, hinaus durch das Tor des B'nai B'rith-Friedhofs, hinein zum Tor des Grace-Friedhofs, und nochmals dieselbe Strecke auf der anderen Seite? Er war sicher, das Begräbnis würde bis dahin !ängst vorüber sein.
Er fuhr die Straße am Gitter entlang. Auch auf der anderen Seite gab es Gräber und ab und zu ein Mausoleum. Schließlich hielt er so nahe am Zaun wie möglich, hinter einer imposanten Granitkrypta, und stieg aus.
Die Trauergemeinde war jetzt hinter Grabmälern und einer kleinen Anhöhe verborgen. Immer noch zögernd stieg er auf die Motorhaube und weiter aufs Wagendach; von dort aus gelang es ihm, sich auf den Zaun zu schwingen, hinauf und hinüber, während die Metallspitzen des dicken Drahtes ihm durch die Kleider in die Haut stachen.
Mit Befriedigung stellte er fest, daß zumindest nichts zerrissen war. Auf dem Dach der Krypta lag Schnee. Er stapfte hindurch bis zum andern Ende des Daches und blickte nachdenklich hinunter: der Boden fiel ab, er schätzte die Höhe auf mindestens zweieinhalb Meter. Aber er sah keine andere Möglichkeit, hinunterzukommen.
Er sprang.
Ungeschickt, wie ein Klotz, landete er auf dem Boden, die Füße glitten im weichen Schnee unter ihm weg, und schon lag er der Länge nach auf dem Rücken. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er hinter und über sich die gemeißelte Inschrift auf der Gruft: Virgina Curtis
RUHE IN FRIEDEN
Regina FAMILIE BUFFINGTON Lawrence Charles
Zum Glück schien nichts gebrochen. Michael erhob sich, klopfte, so gut es ging, den Schnee von seinen Kleidern, und spürte die nassen Klumpen, die ihm über Hals und Rücken rannen. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu Familie Buffington.
Es gab keinen Pfad durch den tiefen Schnee bis zu dem gesäuberten Weg, der den Friedhof querte; mit Schnee in den Schuhen und den Hosenaufschlägen kam Michael unten an und machte sich auf den Weg zum Begräbnisplatz.
Er stand am äußersten Rand der dichtgedrängten Menge.
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