Der Rabbi
»Gehört das vielleicht Ihnen?« fragte sie den jungen Dickwanst.
Jetzt erst blickte er sie an.
Sie nahm das Heftchen und hielt es ihm entgegen. »Oder haben Sie gesehen, wer das hierhergelegt hat?« »Gnädigste, ich war ganz in meine Zeitung vertieft. .. bei Gott.« Er griff nach seiner Aktentasche und machte sich davon. Der eine Taschenriemen stand offen. War er das auch schon vorher gewesen? Sie konnte es nicht mehr sagen und musterte die Umsitzenden. Aber keiner nahm Notiz von ihr, jeder war mit dem Essen beschäftigt, lauter ausdruckslose Gesichter. Und jeder konnte es gewesen sein. Warum nur? wandte sie sich innerlich an all diese leeren Visagen. Was wollt ihr damit? Was gewinnt ihr damit?
Schert euch weg und laßt uns in Ruhe! Geht in den Wald und feiert dort um Mitternacht eure schwarzen Messen. Geht meinetwegen Hunde vertilgen. Legt den Pelztieren eure Schlingen, oder ersauft meinetwegen im Meer oder, besser noch, geht in die Erde hinein, und die Erde soll euch verschlingen.
Was wollen wir für unsere Kinder?
Was wir wollen? Zu allererst genug Luft, damit sie atmen können, dachte Leslie. Nur frei atmen, sonst gar nichts.
Aber die bekommst du nicht, indem du dich in einem Hotelzimmer verkriechst, dachte sie weiter. Da mußt du zunächst einmal nach Hause gehen.
Aber vorher war noch etwas Wichtiges zu erledigen, fiel ihr ein. Denn zwischen ihrem Vater und jener Person, die das da geschrieben hatte, gab es keine Gemeinsamkeit. Und so mußte sie ihrem Vater in die Augen blicken und ihm Rede und Antwort stehen: Antwort, die ihm endlich begreiflich machte, worum es hier überhaupt ging.
Am nächsten Morgen, sie saß schon im Zug, suchte sie sich zu erinnern, wann sie ihrem Vater wohl zum letztenmal etwas mitgebracht hatte, und sie verspürte den dringenden Wunsch, ihm etwas zu schenken. In Hartford stieg sie aus und kaufte bei Fox's ein Buch von Reinhold Niebur. Erst im Taxi, auf der Fahrt zur Elm Street, ersah sie aus dem Auflagedatum, daß das Buch schon vor mehreren Jahren erschienen war und ihr Vater es möglicherweise schon kannte. Im Pfarrhaus blieb auf ihr Klopfen alles still, aber das Tor war unversperrt.
»Ist jemand da?« rief sie.
Ein alter Mann trat aus der Bibliothek ihres Vaters, Notizblock und Feder in Händen. Er hatte eine weiße Löwenmähne und buschige graue Brauen.
»Ist Mr. Rawlings nicht hier?« fragte Leslie.
»Mr. Rawlings? Nein. Nicht mehr - oh, Sie wissen es noch nicht?« Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Mein Kind, Mr. Rawlings ist tot. Nun, nun«, sagte er mit besorgter Stimme. Aber sie hörte nur noch das Buch zu Boden fallen und spürte dann, wie jemand sie zu einem Stuhl führte.
Nach einigen Minuten ließ er sie ohne jeden ersichtlichen Grund allein.
Als sie ihn dann im hinteren Teil des Hauses herumkramen hörte, erhob sie sich und trat an den Kamin. Dort erblickte sie den Gipsabguß ihrer rechten Hand. Er muß das Wachs als Gußform verwendet haben, dachte sie. In diesem Augenblick kam der Alte zurück und brachte zwei Tassen dampfenden Tees. Beide schlürften langsam, und es tat wirklich gut.
Der Alte hieß Wilson und war ein pensionierter Geistlicher, der jetzt die Kirchenbücher ihres Vaters zu ordnen hatte. »Was man eben einem alten Mann so zu tun gibt«, sagte er. »Aber ich muß sagen, in diesem Fall ist das wirklich keine Arbeit.«
»Ja, er ist sehr gewissenhaft gewesen«, sagte sie.
Sie saß zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen. Abermals ließ der Alte sie allein. Nach einer Weile kam er wieder und fragte, ob er sie nach dem Friedhof fahren solle.
»Bitte.«
Dort angelangt, beschrieb er ihr den Weg zum Grab, blieb aber selbst im Wagen, wofür sie ihm dankbar war.
Die Erde sah noch frisch umgegraben aus, und Leslie stand davor, sah darauf nieder und dachte darüber nach, was sie jetzt wohl sagen könnte, um ihrem Vater zu zeigen, wie sehr sie ihn trotz allem geliebt hatte. Fast vermeinte sie, seine Stimme ein Kirchenlied singen zu hören, und so stimmte sie innerlich mit ein: O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden, mit einer Dornenkron, o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret gegrüßet seist du mir.
Die letzte Strophe wäre ihr beinahe nicht mehr eingefallen, aber dann sang sie das Lied doch zu Ende:
Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür, wenn mir am
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