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Der Rattenfänger

Der Rattenfänger

Titel: Der Rattenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James McGee
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An der offenen Feuerstelle rührte eine alte, schwarz gekleidete Frau mit einem zerschlissenen Schal über den Schultern in einem großen Kessel. An dem langen Eichentisch in der Mitte des Raums saßen ein Dutzend Kinder im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren – blasse, ungewaschene Mädchen und Jungen in Lumpen. Als Tooler und Jem hereinkamen, drehte die Alte sich um. Im flackernden Schein des Kohlefeuers funkelten ihre wässrigen Augen.
    Niemand kannte Mutter Gants Alter, man wusste nur, dass ihr diese Herberge gehörte, solange sich ihre Nachbarn erinnern konnten. Drei Ehemänner hatte sie überlebt; zwei waren an Krankheiten gestorben, und der dritte war eines Nachts spurlos verschwunden. Gerüchten nach hatte man ihn nach einer Kneipenschlägerei mit aufgeschlitzter Kehle in den Fluss geworfen. Niemand hatte diesen Säufer vermisst, am wenigsten seine Frau.
    Die Kinder am Tisch waren Waisen und Herumtreiber, die Mutter Gant bei sich aufgenommen hatte – nicht etwa aus Nächstenliebe, sondern aus Habgier. Für das Dach über dem Kopf und das Essen im Bauch mussten die Gören bezahlen – mit Diebesbeute, denn Geld hatten sie ja nicht.
    Mutter Gant beherbergte die Waisen. Sie brachte ihnen das Stehlen bei, schickte sie auf die Straße und verhökerte dann die Beute. Und wehe dem, der mit leeren Händen zurückkam!
    Als Tooler und Jem ihre für diesen Nachmittag reiche Beute – drei Uhren, zwei Broschen, eine silberne Schnupftabakdose und vier Geldbeutel – stolz auf dem Tisch ausbreiteten, ließ Mutter Gant ihren Kochtopf im Stich und sichtete leise girrend die Schätze. »Das habt ihr gut gemacht, Jungs«, säuselte sie. »Mutter ist sehr erfreut.«
    Dann griff die Alte nach der Schnupftabakdose, betastete sie prüfend, öffnete den Deckel, nahm mit den Fingerspitzen eine Prise heraus, legte sie auf ihren Handrücken, neigte den Kopf und schnupfte laut und genüsslich. Darauf klappte sie den Deckel wieder zu, wischte sich mit dem Ärmel die Krümel von der Oberlippe und ließ hämisch grinsend die Dose in einer der vielen Taschen ihres Rocks verschwinden.
    »Heute Abend kriegt ihr eine Extraportion, meine Süßen«, flüsterte sie und kehrte hinkend zur Feuerstelle zurück. »Die, die am härtesten arbeiten, verdienen eine Belohnung. Ist doch richtig, oder?«
    In diesem Moment verdunkelte ein Schatten die offen stehende Eingangstür. »Hallo, Mutter Gant. Ist an deinem Tisch noch Platz für einen hungrigen Mann?«
    Angst blitzte in den Augen der Alten auf, als der Besucher in den Raum trat.
    Der große Mann war mit einem mitternachtsblauen, wadenlangen Reitmantel bekleidet. Darunter trug er eine eng geschnittene schwarze Weste, dazu graue Kniehosen und schwarze, hohe Stiefel. Da er barhäuptig war, fiel sein schwarzes, an den Schläfen ergrautes, langes Haar auf, das er – was für die Mode dieser Zeit ungewöhnlich war – im Nacken mit einem schwarzen Band zusammengebunden hatte. Unter seinem linken Auge zeichnete sich entlang des Wangenknochens eine schartige Narbe ab.
    Wie von Matthew Hawkwood nicht anders erwartet, brach in dem Raum gleich nach seinem Eintreten die Hölle los. Stühle und Bänke fielen um, als die Kinder wie von einem Wiesel gejagte Kaninchen an ihm vorbei zur Tür liefen. Und die Alte drehte sich bemerkenswert behände um, warf ihre Suppenkelle nach dem unerwünschten Besucher und stieß gleichzeitig einen schrillen Schrei aus. Daraufhin erhob sich eine bis dahin stumm in der Ecke sitzende massige Gestalt.
    Mutter Gant hatte drei Söhnen und einer Tochter das Leben geschenkt. Ihr Erstgeborener war wie ihr erster und zweiter Ehemann von den Pocken dahingerafft worden, und auch ihr zweiter Sohn war ihr genommen worden. Mit sechzehn zum Militärdienst eingezogen, war er zwei Monate später vor Marokko gefallen. Eine Kanonenkugel von einer französischen Fregatte hatte ihn zerfetzt. Von ihrer einzigen Tochter wusste Mutter Gant nur, dass sie als Hure in den Straßen von Covent Garden und Haymarket ein erbärmliches Dasein führte. Geblieben war ihr nur Eli, der Jüngste, der bei ihr lebte. Es war jedoch zweifelhaft, ob er eine Trennung von seiner Mutter überlebt hätte, denn mit zwanzig hatte Eli zwar die Statur eines Ringers, Oberarme so dick wie ein junger Eichenbaum und Pratzen wie ein Schmied, aber das Gehirn eines Säuglings. Unfähig, für sich selbst zu sorgen und mehr als die einfachsten Arbeiten zu verrichten, war er nichts als der Sklave seiner verwitweten Mutter. Sie

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