Brian Lumleys Necroscope Buch 3: Blutmesse (German Edition)
ERSTES KAPITEL
Der Spion kauerte in einer Schneewehe in einem Wirrwarr aus weißen Felsblöcken auf dem östlichen Kamm dessen, was einmal der Perchorsk Pass im nördlichen Ural gewesen war. Er starrte durch sein Nachtsichtglas auf eine Fläche von fast einem Hektar herunter; eine gewölbte silbrige Platte, die den Boden der Schlucht bedeckte. Im Mondlicht hätte man diese Fläche leicht für Eis halten können, aber Mikhail Simonow wusste, dass es sich nicht um einen Gletscher oder um einen zugefrorenen Fluss handelte; es war eine fast hundertvierzig Meter lange und beinahe siebzig Meter breite Metallplatte. An den unregelmäßigen Kanten der Längsseiten, wo die sanft gebogene Kuppel an die felsigen Wände der Schlucht stieß, und an den beiden Endseiten, wo das Metall glatt mit dem Beton von massiven Staumauern abschloss, war das Material »gerade mal« fünfzehn Zentimeter stark, aber in der Mitte war die künstliche Platte bis zu sechzig Zentimeter dick. Das hatten zumindest die Instrumente der amerikanischen Spionagesatelliten angezeigt. Damit war dies hier die größte von Menschen zusammengetragene Menge Blei auf der ganzen Welt.
Es ist, als blicke man auf den zu drei Vierteln vergrabenen, bleiumwickelten Hals einer Flasche, dachte Mikhail Simonow. Eine magische Flasche – nur dass in diesem Fall der Stöpsel bereits herausgezogen und der Dschinn entflohen war. Simonow war hier, um die Natur dieses sehr zweifelhaften Flüchtlings zu ergründen. Er schnaubte leise, schob seine Assoziationskette in den Hintergrund seiner Gedanken und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Szenerie unter sich.
Den Grund der Schlucht hatte ein Wasserlauf gebildet, der bei heftigen Regengüssen das ganze Tal unter Wasser gesetzt hatte. Der Zulauf des Flüsschens auf der anderen Seite der Talsperre war jetzt zu einem See aufgestaut, dessen Oberfläche glatt und ebenfalls bleiern wirkte. Unter dem großen Bleidach wurde das Wasser durch ein von oben nicht sichtbares Schleusensystem geleitet und trat in Form von vier großen sprühenden Fontänen aus Abflüssen in der unteren Wand wieder aus. Gischt stieg von diesen Wasserfällen auf, gefror und fiel als Mantel aus Schnee und Eis über den unteren Teil der Schlucht, wo trotz der augenscheinlichen Menge des Wassers jetzt nur noch ein Bach seinem alten Bett folgte. Unter dem großen Bleischild standen vier mächtige Turbinen ungenutzt, unbeleckt von dem Wasser, das aus dem See abfloss. Sie standen seit fast zwei Jahren still, seit dem Tag, an dem die Russen diese neue Waffe zum ersten – und zum letzten – Mal erprobt hatten.
Trotz aller Versuche der UdSSR, dies mit technischen Tricks zu verhindern, war auch dieser Test von den amerikanischen Spionagesatelliten »gesehen« worden. Was genau sie gesehen hatten, war nie publik gemacht worden; es war nicht einmal aus einem kleinen Kreis von hohen Staatsbeamten und entsprechenden geheimen Organisationen herausgedrungen, aber es hatte ausgereicht, um das amerikanische SDI- oder »Stars Wars«-Konzept in die Tat umzusetzen. In illustren, sehr mächtigen und hochgradig geheimen Verteidigungsorganisationen der westlichen Welt waren beunruhigt Konferenzen mit Themen wie Neutronenstrahlwaffen, nuklear- und plasmabetriebene Laser und Ähnlichem anberaumt worden. Man sprach sogar über eine Art Magma-Motor, der theoretisch die Energie des schwarzen Loches anzapfen könnte, das von einigen Wissenschaftlern im Erdkern vermutet wurde, wo es ihrer Theorie nach den Planeten speiste und zugleich verschlang. Aber alle diese Diskussionen beruhten nur auf Hypothesen. Abgesehen von den Daten der Spionagesatelliten, war aus Russland selbst nichts herausgedrungen, zumindest nichts, was im Rahmen normaler nachrichtendienstlicher Informationen stand. Die Uralregion um Perchorsk war seit geraumer Zeit strenger abgeriegelt, als es selbst das Baikonur Raketenzentrum zu Zeiten der Sputniks gewesen war. Und die Kontrollen waren nach diesem einzigen schrecklichen Probelauf noch weit schärfer geworden.
Simonow zitterte in seinem weißen pelzbesetzten Anorak. Er wischte sorgfältig die Linsen seines Fernglases sauber und schmiegte sich noch enger an den gefrorenen Boden zwischen den Felsen, als die dahinpeitschenden Wolken sich teilten und ein fast voller Mond verräterisch auf ihn herabschien. Es war schon im sogenannten Sommer kalt hier oben, aber im Spätherbst war es eine Art Hölle aus Eis. Es war jetzt Herbst, und mit etwas Glück würde der Kelch an
Weitere Kostenlose Bücher