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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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ist.
    Und ich glaube, daß ich bin, als ein Teil dieser Materie, Atom, Kraft, Masse, Molekül wie Sie, und daß mir meine Existenz das Recht gibt, zu tun, was ich will. Ich bin als Teil nur ein Augenblick, nur Zufall, wie das Leben in dieser ungeheuren Welt nur eine ihrer unermeßlichen Möglichkeiten ist, ebenso Zufall wie ich — die Erde etwas näher bei der Sonne, und es wäre kein Leben —, und mein Sinn besteht darin, nur Augenblick zu sein. O die gewaltige Nacht, da ich dies begriff! Nichts ist heilig als die Materie: der Mensch, das Tier, die Pflanze, der Mond, die Milchstraße, was auch immer ich sehe, sind zufällige Gruppierungen, Unwesentlichkeiten, wie der Schaum oder die Welle des Wassers etwas Unwe sentliches sind: es ist gleichgültig, ob die Dinge sind oder nicht sind; sie sind austauschbar. Wenn sie nicht sind, gibt es etwas anderes, wenn auf diesem Planeten das Leben erlischt, kommt es, irgendwo im Weltall, auf einem anderen Planeten hervor: wie das große Los immer einmal kommt, zufällig, durch das Gesetz 314
    der großen Zahl. Es ist lächerlich, dem Menschen Dauer zu geben, denn es wird immer nur die Illusion einer Dauer sein, Systeme an Macht zu erfinden, um einige Jahre an der Spitze irgendeines Staates oder irgendeiner Kirche zu vegetieren. Es ist unsinnig, in einer Welt, die ihrer Struktur nach eine Lotterie ist, nach dem Wohl der Menschen zu trachten, als ob es einen Sinn hätte, wenn jedes Los einen Rappen gewinnt und nicht die meisten nichts, wie wenn es eine andere Sehnsucht gäbe als nur die, einmal dieser einzelne, einzige, dieser Ungerechte zu sein, der das Los gewann. Es ist Unsinn, an die Materie zu glauben und zugleich an einen Humanismus, man kann nur an die Materie glauben und an das Ich. Es gibt keine
    Gerechtigkeit — wie könnte die Materie gerecht sein —, es gibt nur die Freiheit, die nicht verdient werden kann — da müßte es eine Gerechtigkeit geben —, die nicht gegeben werden kann — wer könnte sie geben —, sondern die man sich nehmen muß. Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie selbst ein Verbrechen ist.«
    »Ich verstehe«, rief der Kommissär, zusammen-gekrümmt, ein verendendes Tier, auf seinem wei-
    ßen Laken liegend wie am Rande einer endlosen, gleichgültigen Straße. »Sie glauben an nichts als an das Recht, den Menschen zu foltern!«
    »Bravo«, antwortete der Arzt und klatschte in die Hände. »Bravo! Das nenne ich einen guten 315
    Schüler, der es wagt, jenen Schluß zu ziehen, nach dem ich lebe. Bravo, bravo.« (Immer wieder klatschte er in die Hände.) »Ich wagte es, ich selbst zu sein und nichts außerdem, ich gab mich dem hin, was mich frei machte, dem Mord und der Folter; denn wenn ich einen anderen Menschen tötete — und ich werde es um sieben wieder tun —
    , wenn ich mich außerhalb jeder Menschenordnung stelle, die unsere Schwäche errichtete, werde ich frei, werde ich nichts als ein Augenblick, aber was für ein Augenblick! An Intensität gleich ungeheuer wie die Materie, gleich mächtig wie sie, gleich unberechtigt wie sie, und in den Schreien und in der Qual, die mir aus den geöffneten Mündern und aus den gläsernen Augen entgegenschlägt, über die ich mich bücke, in diesem zitternden,
    ohnmächtigen, weißen Fleisch unter meinem Messer spiegelt sich mein Triumph und meine Freiheit und nichts außerdem.«
    Der Arzt schwieg. Langsam erhob er sich und setzte sich auf den Operationstisch.
    Über ihm zeigte die Uhr drei Minuten vor zwölf, zwei Minuten vor zwölf, zwölf.
    »Sieben Stunden«, kam es flüsternd, fast unhörbar vom Bett des Kranken her.
    »Zeigen Sie mir nun Ihren Glauben«, sagte Emmenberger. Seine Stimme war wieder ruhig und sachlich und nicht mehr leidenschaftlich und hart wie zuletzt.
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    Bärlach antwortete nichts.
    »Sie schweigen«, sagte der Arzt traurig.
    »Immer wieder schweigen Sie.«
    Der Kranke gab keine Antwort.
    »Sie schweigen und Sie schweigen«, stellte der Arzt fest und stützte beide Hände auf den Operationstisch. »Ich setze bedingungslos auf ein Los.
    Ich war mächtig, weil ich mich nie fürchtete, weil es mir gleichgültig war, ob ich entdeckt werde oder nicht. Ich bin auch jetzt bereit, alles auf ein Los zu werfen, wie auf eine Münze. Ich werde mich geschlagen geben, wenn Sie, Kommissär, mir beweisen, daß Sie einen gleich großen, gleich be-dingungslosen Glauben wie ich besitzen.«
    Der Alte schwieg.
    »Sagen Sie doch etwas«, fuhr Emmenberger
    nach einer Pause fort, während

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