Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Zuletzt war er der Kriminalpolizei Frankfurt am Main vorgestanden, doch kehrte er schon dreiunddreißig in seine Vaterstadt zurück. Der Grund seiner Heimreise war nicht so sehr seine Liebe zu Bern, das er oft sein goldenes Grab nannte, sondern eine Ohrfeige gewesen, die er einem hohen Beamten der
damaligen neuen deutschen Regierung gegeben hatte. In Frankfurt wurde damals über diese Ge -
walttätigkeit viel gesprochen, und in Bern bewer-tete man sie, je nach dem Stand der europäischen Politik, zuerst als empörend, dann als verurtei-lungswert, aber doch noch begreiflich, und endlich sogar als die einzige für einen Schweizer mögliche Haltung; dies aber erst fünf und vier zig.
Das erste, was Bärlach im Fall Schmied tat, war, daß er anordnete, die Angelegenheit die ersten Tage geheim zu behandeln — eine Anordnung, die er nur mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit durchzubringen vermochte. »Man weiß zu wenig, und die Zeitungen sind sowieso das Überflüssigste, was in den letzten zweitausend Jahren erfunden worden ist«, meinte er.
Bärlach schien sich von diesem geheimen Vorgehen offenbar viel zu versprechen, im Gegensatz zu seinem »Chef«, Dr. Lucius Lutz, der auch auf der Universität über Kriminalistik las. Dieser Be-10
amte, in dessen stadtbernisches Geschlecht ein Basler Erbonkel wohltuend eingegriffen hatte, war eben von einem Besuch der New Yorker und Chicagoer Polizei nach Bern zurückgekehrt und erschüttert »über den vorweltlichen Stand der Ver-brecherabwehr der schweizerischen Bundeshaupt-stadt«, wie er zu Polizeidirektor Freiberger anläß-
lich einer gemeinsamen Heimfahrt im Tram offen sagte.
Noch am gleichen Morgen ging Bärlach — nachdem er noch einmal mit Biel telefoniert hatte — zu der Familie Schönler an der Bantigerstraße, wo Schmied gewohnt hatte. Bärlach schritt zu Fuß die Altstadt hinunter und über die Nydeckbrücke, wie er es immer gewohnt war, denn Bern war seiner Ansicht nach eine viel zu kleine Stadt für »Trams und dergleichen«.
Die Haspeltreppen stieg er etwas mühsam hinauf, denn er war über sechzig und spürte das in solchen Momenten; doch befand er sich bald vor dem Hause Schönler und läutete.
Es war Frau Schönler selbst, die öffnete, eine kleine, dicke, nicht unvornehme Dame, die Bärlach sofort einließ, da sie ihn kannte.
»Schmied mußte diese Nacht dienstlich verrei-sen«, sagte Bärlach, »und er hat mich gebeten, ihm etwas nachzuschicken. Ich bitte Sie, mich in sein Zimmer zu führen, Frau Schönler.«
11
Die Dame nickte, und sie gingen durch den Korridor an einem großen Bilde in schwerem Goldrahmen vorbei.
»Wo ist Herr Schmied denn?« fragte die dicke Frau, indem sie das Zimmer öffnete.
»Im Ausland«, sagte Bärlach und schaute nach der Decke hinauf.
Das Zimmer lag zu ebener Erde, und durch die Gartentüre sah man in einen kleinen Park, in welchem alte, braune Tannen standen, die krank sein mußten, denn der Boden war dicht mit Nadeln bedeckt. Es mußte das schönste Zimmer des Hauses sein. Bärlach ging zum Schreibtisch und schaute sich aufs neue um. Auf dem Diwan lag eine Krawatte des Toten,
»Herr Schmied ist sicher in den Tropen, nicht wahr, Herr Bärlach«, fragte ihn Frau Schönler neugierig. Bärlach war etwas erschrocken: »Nein, er ist nicht in den Tropen, er ist mehr in der Höhe.«
Frau Schönler machte runde Augen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Mein Gott, im Himalaja?«
»So ungefähr«, sagte Bärlach, »Sie haben es beinahe erraten.« Er öffnete eine Mappe, die auf dem Schreibtisch lag und die er sogleich unter den Arm klemmte.
»Sie haben gefunden, was Sie Herrn Schmied nachschicken müssen?«
12
»Das habe ich.«
Er schaute sich noch einmal um, vermied es aber, ein zweites Mal nach der Krawatte zu blicken.
»Er ist der beste Untermieter, den wir je gehabt haben, und nie gab's Geschichten mit Damen oder so«, versicherte Frau Schönler.
Bärlach ging zur Türe: »Hin und wieder werde ich einen Beamten schicken oder selber kommen.
Schmied hat noch wichtige Dokumente hier, die wir vielleicht brauchen.«
»Werde ich von Herrn Schmied eine Postkarte aus dem Ausland erhalten?« wollte Frau Schönler noch wissen. »Mein Sohn sammelt Briefmarken.«
Aber Bärlach runzelte die Stirne und bedauerte, indem er Frau Schönler nachdenklich ansah:
»Wohl kaum, denn von solchen dienstlichen Reisen schickt man gewöhnlich keine Postkarten.
Das ist verboten.«
Da schlug Frau Schönler aufs
Weitere Kostenlose Bücher