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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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fast dunkel, als er die Haustür aufschloss und die quietschende Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg. Er war sehr, sehr allein - kein Mensch, kein Hund, keine Katze, kein Goldfisch erwartete ihn.
    In den letzten Jahren war er zwei Frauen begegnet, die er attraktiv fand, aber mit keiner der beiden hatte er ein Rendezvous vereinbart. Eine kesse Studentin aus dem sechsten Semester hatte Annäherungsversuche unternommen, doch seine Abwehrmechanismen waren intakt. Sein Verlangen nach Sex war so eingeschlafen, dass er schon überlegt hatte, professionelle Hilfe zu suchen oder vielleicht auch zu Wundermitteln Zuflucht zu nehmen. Er schaltete das Licht an und überprüfte den Anrufbeantworter.
    Forrest hatte angerufen, was ein seltenes, wenn auch in dieser Situation nicht völlig unerwartetes Ereignis war. Typisch für seinen Bruder war allerdings, dass er keine Rückrufnummer hinterlassen hatte. Ray braute sich entkoffeinierten Tee, stellte Jazzmusik an und versuchte, sich innerlich auf das Gespräch mit Forrest vorzubereiten. Es war schon merkwürdig, dass ihn ein Telefonat mit seinem Bruder so viel Oberwindung kostete, aber eine Unterhaltung mit Forrest war immer deprimierend. Beide hatten weder Frau noch Kinder. Nur ihr Nachname und ihr Vater verbanden sie miteinander.

    Ray wählte Ellies Nummer in Memphis. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie an den Apparat ging. »Hallo, Ellie, hier ist Ray Atlee«, sagte er freundlich.
    » Oh«, stöhnte sie, als hätte er an diesem Tag bereits zum achten Mal angerufen. »Er ist nicht da.«
    Alles in Ordnung, Ellie, und wie geht es Ihnen? Gut, danke der Nachfrage. Schön, Ihre Stimme zu hören. Wie ist denn das Wetter bei Ihnen?
    »Er hat’s bei mir versucht, ich rufe nur zurück«, sagte Ray.
    »Ich hab’ doch schon gesagt, dass er nicht hier ist.«
    »Das habe ich verstanden, aber kann ich’s unter einer anderen Nummer versuchen?«
    »Wozu?«
    »Um Forrest zu erreichen. Erreicht man ihn bei Ihnen immer noch am ehesten?«
    »Vermutlich schon. Meistens ist er hier.«
    »Dann sagen Sie ihm bitte, dass ich angerufen habe.«
    Forrest und Ellie hatten sich während einer Entziehungskur kennen gelernt. Bei ihr ging es um hochprozentigen Alkohol, bei ihm um eine ganze Kollektion illegaler Substanzen. Damals wog Ellie deutlich unter fünfzig Kilogramm und behauptete, sich die längste Zeit ihres Erwachsenenlebens von nichts anderem als Wodka ernährt zu haben. Sie schwor dem Alkohol ab, verdreifachte ihr Körpergewicht, und irgendwie geriet Forrest in ihre Fänge. Für ihn war sie eher Mutter als Freundin. jetzt lebte er in einem Kellerraum des Hauses ihrer Vorfahren, eines unheimlichen viktorianischen Gebäudes am Rand der Innenstadt von Memphis.
    Als das Telefon klingelte, hielt Ray das Mobilteil noch in der Hand.
    »He, Bruderherz«, meldete sich Forrest lautstark. »Du hast versucht, mich zu erreichen?«
    »Ich wollte dich zurückrufen. Wie geht’s?«
    »Na ja, bis der Brief von unserem alten Herrn kam, ging’s mir ziemlich gut. Hast du ihn auch gekriegt?«
    »Heute angekommen.«
    » Er tut immer noch so, als wäre er der Richter und wir Verbrecher, findest du nicht?«
    »Er wird immer ein Richter sein, Forrest. Hast du mit ihm gesprochen? «
    Ein Schnauben, dann eine Pause. »Am Telefon habe ich seit zwei Jahren nicht mehr mit ihm geredet. Wann ich zum letzten Mal einen Fuß in das Haus gesetzt habe, weiß ich schon gar nicht mehr. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich am Sonntag kommen werde.«

    »Du wirst kommen.«
    »Hast du mit ihm gesprochen?«
    »Vor drei Wochen. Ich habe ihn angerufen, nicht er mich. Er klang sehr krank, Forrest. Ich glaube nicht, dass er noch lange leben wird. Meiner Meinung nach solltest du ernsthaft darüber nachdenken …«
    »Fang gar nicht erst an, Ray. Ich höre mir keine Strafpredigten an.«
    Es entstand eine Gesprächspause, ein bedrückendes Schweigen, das beide nutzten, um erst einmal tief durchzuatmen. Als Süchtiger aus einer weit-hin bekannten Familie hatte Forrest sich, solange er sich zurückerinnern konnte, permanent Straf- und Moralpredigten und gute Ratschläge aller möglichen Leute anhören müssen.
    »Tut mir Leid«, sagte Ray. »Ich werde hinfahren. Wie sieht’s mit dir aus?«
    »Na ja, ich vermutlich auch.«
    »Bist du clean?« Das war zwar eine sehr persönliche Frage, dennoch kam sie Ray so routinemäßig über die Lippen, als fragte er nach dem Wetter. Forrest antwortete immer direkt und ehrlich.
    »Seit

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