Der Richter
juristischen Fakultät schwor er sich, später nicht in Clanton zu bleiben. Ein weiteres Jahr benötigte er, um endlich den Mut zu finden, seinen Vater davon zu informieren, worauf dieser acht Monate lang nicht mehr mit ihm sprach. Als Ray das Studium abschloss, saß Forrest gerade im Gefängnis. Bei der Feier anlässlich der Verleihung des akademischen Grads kam der Richter zu spät.
Er saß in der letzten Reihe und ging vorzeitig, ohne ein Wort mit Ray zu wechseln. Erst durch den ersten Herzinfarkt seines Vaters kam eine Art Versöhnung zustande.
Geld war nicht der ausschlaggebende Grund für Rays Flucht aus Clanton gewesen. Die Anwaltskanzlei Atlee & Atlee war nie Realität geworden, weil der Juniorpartner dem langen Schatten seines Vaters hatte entfliehen wollen.
Richter Atlee war ein großer Mann in einer kleinen Stadt.
Am Stadtrand fand Ray eine Tankstelle, und bald fuhr er wieder mit siebzig Stundenkilometern auf der reizvoll gelegenen Straße durch die Hü-
gel. Manchmal begnügte er sich sogar mit Tempo fünfundsechzig. An etli-chen Aussichtspunkten hielt er an, um die Landschaft zu bewundern. Er vermied große Städte und studierte seine Karten sorgfältig. Früher oder später führten ohnehin alle Straßen nach Mississippi.
In der Nähe von Black Rock an der Grenze North Carolinas fand er ein altes Motel, das auf einem - allerdings bereits verbeulten und angerosteten -
Schild damit warb, für 29,99 Dollar Klimaanlage, Kabelfernsehen und saubere Zimmer zu bieten. Offensichtlich war mit dem Kabel auch die Inflation eingetroffen, denn der Preis war mittlerweile auf vierzig Dollar ange-stiegen. Direkt nebenan befand sich ein rund um die Uhr geöffneter Coffeeshop, wo Ray Knödel, die Spezialität des Hauses, hinunterwürgte. Nach dem Essen setzte er sich auf eine Bank vor dem Motel, um eine Zigarre zu rauchen und den gelegentlich vorbeifahrenden Autos nachzublicken.
Etwa hundert Meter jenseits des gegenüberliegenden Straßenrands befand sich ein altes Autokino. Das Vordach mit dem Schild an der Einfahrt war eingestürzt und mit Kletterpflanzen und Gräsern bewachsen. Die große Leinwand und die Zäune am Rand des Grundstücks verfielen offenbar schon seit Jahren.
Auch in Clanton hatte es einst - neben der Haupteinfallstraße am Stadtrand - ein Autokino gegeben, das einer Kette aus dem Norden gehörte und das übliche Programm zeigte: kitschige Liebesfilme, Horror- und Kung-Fu-Streifen, die die Jugend des Ortes anzogen und den Geistlichen Anlass zum Lamentieren boten. Anfang der Siebzigerjahre entschlossen sich die finsteren Mächte aus dem Norden zu einem weiteren Angriff auf den Süden und überschwemmten diesen mit anrüchigen Filmen.
Wie die meisten guten oder schlechten Neuerungen kam auch die Sexwelle erst spät in Clanton an. Als auf der Anzeigetafel The Cheerleaders angekündigt wurde, nahmen die vorbeikommenden Autofahrer den Film zu-nächst kaum zur Kenntnis. Aber als am nächsten Tag der Zusatz »XXX«
hinzugefügt wurde, hielten die Wagen an, und in den Coffeeshops am Clanton Square herrschte aufgeregte Vorfreude. Am Montag lief der Film vor einem kleinen, neugierigen und in gewisser Hinsicht enthusiasmierten Publikum an, auf den Schulhöfen wurde er gut rezensiert, und am Dienstag versteckten sich Horden von Teenagern, teilweise mit Ferngläsern bewaffnet, in den Büschen und trauten ihren Augen nicht. Nach der Abendandacht am Mittwoch nahmen die Priester die Sache in die Hand, doch die von ihnen gestartete Gegenoffensive verließ sich eher auf Einschüchterung als auf gewiefte Taktik.
Die Geistlichen hatten wohl bei demonstrierenden Bürgerrechtlern gelernt, für die sie ansonsten absolut keine Sympathien hegten. Gemeinsam mit ihren Schäfchen erschienen sie vor dem Autokino, wo sie Transparente hochreckten, sangen, beteten und sich die Autokennzeichen der Wagen notierten, deren Besitzer den Film sehen wollten.
Mit dem Geschäft der Betreiber war es damit fürs Erste vorbei. Die Kinokette aus dem Norden erhob sofort Klage, um eine einstweilige Verfü-
gung gegen die Vorführung des Streifens auszuhebeln. Jetzt reagierten die Priester ihrerseits mit einer Klage, und es war nicht weiter überraschend, dass die Angelegenheit vor dem Richterstuhl des ehrenwerten Reuben V.
Atlee ausgetragen wurde, der seit jeher Mitglied der presbyterianischen Kirche und außerdem ein Abkömmling jener Atlees war, die das Gotteshaus gebaut hatten. Zudem war er seit dreißig Jahren Lehrer einer Gruppe
Weitere Kostenlose Bücher