Der Richter
überflüssig.
Bald hatte er Charlottesville hinter sich gelassen. Er wollte die Geschwindigkeitsbegrenzungen einhalten und, wenn es sich irgendwie machen ließ, die Benutzung der vierspurigen Autobahnen vermeiden.
Eine Fahrt ohne Stress - das war sein Ziel. Auf dem Ledersitz neben ihm lagen Karten, eine Thermoskanne mit starkem Kaffee, drei kubani-sche Zigarren und eine Flasche Mineralwasser.
Ein paar Autominuten westlich der Stadt bog er nach links auf den Blue Ridge Parkway ab, der sich über die Hügel nach Süden schlängelte. Das Audi-TT-Kabriolett war Baujahr 2000, die Entwicklung erst vor einem oder zwei Jahren abgeschlossen worden. Als Ray vor ungefähr eineinhalb Jahren die Ankündigung des Unternehmens über einen brandneuen Sportzweisitzer gelesen hatte, war er sofort losgestürmt, weil er den Wagen als Erster in Charlottesville besitzen wollte. Obwohl ihm der Autohändler versichert hatte, dass der Wagen bald populär werden würde, hatte er bisher noch keinen zweiten in Charlottesville gesehen.
An einem Aussichtspunkt zog er das Verdeck auf. Dann steckte er sich eine Zigarre an und schlürfte dazu seinen Kaffee. Anschließend fuhr er mit einer Höchstgeschwindigkeit von siebzig Stundenkilometern weiter, doch selbst bei diesem gemäßigten Tempo ragten die bevorstehenden Ereignisse in Clanton schon drohend vor ihm auf.
Vier Stunden später, als Ray gerade eine Tankstelle suchte, fand er sich vor einer roten Ampel auf der Hauptstraße einer Kleinstadt in North Carolina wieder. Vor ihm überquerten drei Rechtsanwälte die Straße. Sie redeten wild durcheinander und trugen alle die gleichen ramponierten alten Aktentaschen, die genauso abgenutzt waren wie ihre Schuhe. Zu seiner Linken bemerkte er ein Gerichtsgebäude. Er sah, dass die drei Männer auf der rechten Straßenseite in einem Lokal verschwanden. Auch er war plötzlich hungrig, doch sein Hunger galt nicht nur dem Essen. Er wollte Menschen um sich haben und Stimmen hören.
Die drei Rechtsanwälte saßen in einer Nische in der Nähe des Fensters zu Straße und unterhielten sich weiter, während sie ihren Kaffee umrührten.
Nachdem Ray an einem Tisch nicht allzu weit von ihnen entfernt Platz genommen hatte, bestellte er ein Sandwich bei einer ältlichen Kellnerin, die hier vermutlich schon seit Jahrzehnten bediente. Ein Glas Eistee, ein Sandwich - sie notierte alles mit größter Genauigkeit. Wahrscheinlich ist der Chef noch älter, dachte Ray.
Die Anwälte kamen gerade von einer Gerichtsverhandlung, bei der sie den ganzen Morgen über ein Stück Land in den Bergen gefeilscht hatten.
Ein Landverkauf, eine Klage und so weiter und so fort, und jetzt hatten sie ihren Prozess. Sie hatten Zeugen aufgerufen, dem Richter Präzedenzfälle vorgetragen und alle Argumente der Gegenseite in Zweifel gezogen. Dabei hatten sie sich so verausgabt, dass sie jetzt dringend eine Pause benötigten.
Das also wäre ich geworden, wenn es nach dem Richter gegangen wäre, dachte Ray. Fast hätte er laut vor sich hin gesprochen. Er gab vor, die Lo-kalzeitung zu lesen, aber tatsächlich lauschte er dem Gespräch der Rechtsanwälte.
Richter Reuben Atlees Traum war es gewesen, dass seine Söhne nach dem Abschluss ihres Jurastudiums nach Clanton heimkehrten. Dann hätte er sich aus dem Gerichtssaal zurückgezogen und gemeinsam mit Ray und Forrest eine Kanzlei am Clanton Square eröffnet. So hätten seine Söhne einen ehrenwerten Beruf gehabt, und er hätte sie darin unterwiesen, wie man ein richtiger Rechtsanwalt wurde - ein Gentleman-Anwalt vom Land.
Eher ein bankrotter Anwalt, dachte Ray. Wie in allen Kleinstädten im Süden wimmelte es auch in Clanton nur so von Anwälten, die dicht ge-drängt in den Bürogebäuden gegenüber dem Gericht residierten. Sie kümmerten sich um die Politik, die Banken, die Bürgerzentren und Schulbe-hörden, selbst um Kirchenangelegenheiten und sogar die Baseball-Jugendmannschaften. Wo genau wäre sein Platz gewesen?
Während der sommerlichen Semesterferien hatte Ray für seinen Vater gejobbt, selbstverständlich ohne Bezahlung. Folglich kannte er sämtliche Anwälte in Clanton. Alles in allem waren sie keine üblen Menschen, aber es gab einfach zu viele.
Forrests Leben war schon früh auf eine abschüssige Bahn geraten, und das hatte damals den Druck auf Ray verstärkt, dem Beispiel seines Vaters zu folgen und ein Leben in vornehmer Armut zu führen. Allerdings widerstand er diesem Druck, und nach dem ersten Studienjahr an der
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