Der rote Norden - Roman
mehr ganz so sicher.
»Es ist das höchste Gebot. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!«
»Du willst behaupten, dass diese Nerze meine«, er dehnt das Wort, »
Nächsten
sind?«
»Sicher. Wer denn sonst? Die Fliegen in der Küche etwa?«
Er schweigt.
»Oder ich?«
Er schweigt.
»Das, was du tust, widerspricht dem Willen Gottes.« Ich mache eine kurze Pause, und mein Blick erforscht nochmals sein Gesicht, das mir so bekannt ist, und seine Hände. »Und du liebst dich selbst nicht. Das hat Gott auch verboten.«
Sein Mund öffnet sich leicht, sein Gesicht wird grau. Er dreht den Kopf weg.
»Jetzt musst du dein Wort halten!«
Seine Augen ziehen sich zusammen. Sein Gesicht schrumpft. Seine rechte Hand lässt die Maus los, sie hebt sich wie von alleine – wahrscheinlich würde er sich gerne an die Kehle greifen, aber dann greift er wieder zur Maus. »Schau auf deinen Bildschirm«, sagt er scharf. Die Bibelstellen verschwinden. Auf dem grossen Monitor erscheint der Plan des Anwesens. x zoomt auf die eiserne Mauer. Und jetzt erkenne ich, dass es in dieser Mauer Pforten hat. Er berührt diese Pforten mit dem Mauszeiger und öffnet jede einzelne mit einem Klick. »Und jetzt«, sagt er. Auf dem Monitor erscheint der Plan der langen Reihen mit den Gitterkäfigen. »So«, sagt er. Bevor er »so« gesagt hat, hat er in seine Tasten etwas eingetippt. Er blickt angewidert vor sich hin.
»Hau ab«, sagt er. »Du hast jetzt, was du willst.«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Du musst noch das Haupttor öffnen.«
Er schnaubt durch die Nase: »Martin … du willst zu Martin!«
Ich stehe auf und sage: »Ja.« Jetzt bin ich grösser als er. Ich wiederhole: »Du musst das Haupttor öffnen!«
Der Plan der Käfige verschwindet vom Monitor und der erste Plan erscheint erneut. Dann folgt der Ausschnitt, der das Haupttor zeigt. Mit einem Klick öffnet er dieses Tor. Dann schreit er: »Geh jetzt!«
»Ich gehe!«, sage ich.
Ich setze mich ungelenk auf die Rampe, lasse mich nach unten gleiten und stelle mich nochmals vor ihn hin. »Danke!«, sage ich zu ihm. Er schaut angeekelt in meine Richtung.
»Es ist dir offenbar nicht klar, dass diese Käfige mit neuen Nerzen gefüllt werden, dass neue Tiere in mein Jagdgebiet gebracht werden. Was du machst, ist nicht nur kontraproduktiv, es ist sinnlos!«
Ich drehe mich um und gehe. Ich gehe die Treppe hinab und dann zur Türe hinaus. Draussen dämmert es bereits, es ist kühl. Der Gestank der Exkremente der Nerze ist in der Luft, aber die Schreie der Tiere sind verstummt.
Ich gehe auf die Käfige zu: Sie stehen offen. Viele der befreiten Tiere sind schon weit weg, einige befinden sich noch auf der Höhe der vordersten Käfige. Aber alle fliehen in die Richtung, in die auch ich gehe: zum Haupttor, keines wendet sich zum Haus, zum Wald hinter dem Haus. Wie Schatten hasten sie an mir vorbei, vor mir her, während ich durch die leeren Käfigreihen zum Haupttor gehe. Es ist ein langer Weg. Die Tiere sind schneller als ich. Als ich zum Tor komme, steht es weit offen. Ich blicke mich um, ob hinter mir kleine Tiere sind, die den Ausgang noch nicht gefunden haben. Ich sehe keines mehr. Ich trete durchs Tor. Draussen steht Martin. Er trägt meine Jacke in der Hand und legt sie mir um. Er umarmt mich. Ich lege den Kopf an seine Schulter und atme ein und aus.
Plötzlich begreife ich. Ich wende meinen Kopf nach oben, um sein Gesicht zu sehen, es ist allerdings so dunkel, dass ich dieses Gesicht nur ahne. »Martin«, sage ich, »du bist drinnen gewesen.«
»Ja«, sagt er. Seine Stimme tönt ruhig und froh, anders als bisher.
»Wer war x , als du drinnen gewesen bist?«
»Sophie«, sagt er und berührt mit einer Hand kurz mein Haar: »Das einzig Wichtige ist, dass du es geschafft hast.«
Hinter mir vernehme ich einen kleinen Ruck. Ich weiss, dass sich das Haupttor erneut geschlossen hat.
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