Der rote Norden - Roman
1.
Zusammengeknüllt, wie damals als Fötus. Aber ich schaffe es nicht, den Kopf auf die Knie zu legen, weil mein Bauch zu dick ist. Ich bin überall zu dick. Überall.
Überall Tränen. Alles ist nass. Wenigstens kann ich meine Knie halten. Wenigstens das.
Ich weine so sehr, ich weiss nur eines, ich möchte sterben.
Das Telefon. Ich höre es erst jetzt. Die Beine loslassen und ganz vorsichtig auf den Boden setzen. Die Nummer? Es ist alles verschwommen, auch wenn ich den Hörer ganz nah vor die Augen halte. Die Nummer … ich sollte sie kennen. – Martin!
»Martin?« Wie gut, dass er da ist, wenigstens am Telefon.
»Weinst du?«
»Ja.« Man kann die Tränen nicht stoppen, auch wenn man eine Hand – die, die den Hörer nicht hält – gegen den Mund drückt.
»Warum denn?«
Mehr als ein Jahr hat er nicht angerufen und jetzt auf einmal, da ich nichts mehr sehe und mir alles wehtut vom Weinen, jetzt höre ich seine Stimme.
Wie kann ich ihm antworten? Ich soll etwas sagen.
»Das Bild, das Bild mit dem Delfin, das im Wohnzimmer hängt. Du hast mir damals den Rahmen dazu geschenkt, du hast es mir rahmen lassen, zum dreissigsten Geburtstag, vielleicht erinnerst du dich?« Meine Stimme überschlägt sich.
»Es ist kaputt, und ich bin schuld daran.«
Er sagt nichts. Also weiter. Weiter mit dieser quieksigen Stimme. Langsam.
»Die Katze, warte, ich erzähle der Reihe nach: Da gibt es eine Katze, Mimi, sie gehört dem Nachbarn. Ich lasse sie manchmal durch die Terrassentüre herein, nein eigentlich jeden Tag, wenn Kaspar nicht da ist. Ich gebe ihr dann zu trinken. Sie mag Rahm. Sie kotzt gern. Wirklich, das tönt komisch, sie kotzt gern. Es ist nur so … klare Flüssigkeit mit etwas Gras drin. Ich putze es dann auf. Kein Problem, gar kein Problem.«
Ich sehe das Bild nicht, ich sehe nur Flecken, aber ich weiss, der blaugrüne Fleck rechts, das ist das Bild.
»Das Bild ist vor einer Woche oder so heruntergerutscht. Der Nagel ist locker gewesen, der eine Nagel. Martin, mir ist klar, wie blöd das tönt. Und zusammenhangslos. Und sogar … sogar wenn es einen Zusammenhang gäbe, ich meine, wenn ich es …«
Er sagt immer noch nichts.
»Es ist doch nur eine Fotografie.« Es ist tatsächlich seine Stimme.
»Ich weiss, dass es nur eine Fotografie ist, ich habe sie ja selber gemacht, damals auf dem Schiff, auf der Überfahrt. Da siehst du, wie blöd ich bin, ich weine so, und dabei kann man das Bild doch neu machen, aber ich habe den Eindruck, man kann es nicht neu machen. Du musst entschuldigen, dass ich …«
Und dann plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich mich selber sehe, wie ich vornüber gekrümmt auf dem grünwollenen Polstersessel neben dem dunkelbraunen, dünnbeinigen Telefontisch sitze, wie ich den Hörer ans Ohr drücke und die linke Hand zu einer Faust balle.
Die Frau auf dem Sessel neigt den Oberkörper langsam zurück, ihr Gesicht ist geschwollen. Es ist nett, dass Martin anruft, aber sie kann ihm nicht verständlich machen, was passiert ist. Sie versteht es ja selbst nicht.
»Martin, ich hänge auf.«
»Warte doch! Bitte! Komm zum Begräbnis von Tante Sophie. Die Feier ist morgen um drei Uhr in der St. Jakobskirche in Schieren.«
Dann ist der Hörer wieder in seiner Halterung.
Die Frau hebt ihre nassen Hände hoch, spreizt sie, hält sie vor ihre Brust. Sie wendet jetzt die starren, offenen Hände hin und her und schaut offenbar darauf. Warum?
2.
Es ist ein Foto, das sie einmal selbst gemacht hat. Man sieht einen Delfin darauf. Sie ist auf einem Schiff im Mittelmeer gewesen, gleich nach der Matura, eine Reise ohne Kaspar. Danach gab es nur noch Reisen mit Kaspar. Die Erinnerung an den Delfin. Sie hat ihm, auf die Reling gestützt, lange zugeschaut. Er ist neben dem Schiff, neben ihr geschwommen. Sie hat ihn fotografiert. Und ihr Bruder hat das Bild für sie rahmen lassen. »Was wünschst du dir zum dreissigsten Geburtstag?« Und sie hat gesagt, sie hätte gerne einen Rahmen für eine Vergrösserung ihres schönsten Bildes, des Bildes von diesem Delfin. Das Foto zeigt, wie er steil hochspringt, wie er diagonal durch das Bild springt, wie er aufsteigt. Und dahinter sieht man nur blaue Wellen. Und der Delfin ist auch blau, weil er das Licht der Wellen reflektiert. Natürlich passt das Foto nicht zu dem Stich aus dem siebzehnten Jahrhundert, der all die Jahre daneben über dem Ledersofa gehangen hat. Doch Kaspar hat nicht geschimpft, weil es ja das Geburtstagsgeschenk gewesen ist. Wenn
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