Der rote Norden - Roman
zugewendetes Gesicht, das vom Licht, das durch das vorhanglose Fenster hinter ihm fällt, beschienen wird. Ich kenne dieses Gesicht; die Falten, die kurze Narbe auf dem Buckel in der Stirne rechts. »Du versprichst mir, dass du alle freilässt, wenn ich mit einem Zitat aus der Bibel beweisen kann, dass Gott nicht will, dass diese Tiere in der Gefangenschaft existieren!«
Er schiebt das Kinn nach vorne und nickt gewichtig. »Gott oder Jesus – du hast die Wahl. Nicht irgendein Prophet!«
»Und wenn ich es nicht schaffe?«
»Dann bleibst du hier«, lächelt er. »Ich kann jemanden brauchen, der die Fliegen im Griff hat – und wer immer mit dir hergekommen ist, verreckt draussen vor dem Tor.« Martin, er weiss von Martin!
Der Mann im Rollstuhl greift nach der Maus, die zum Computer vor mir gehört, drückt kurz darauf und sagt leise: »Die Zeit läuft.« Auf meinem Bildschirm ist nun eine Uhr eingeblendet, etwa zehn Zentimeter im Durchmesser, deren Sekundenzeiger geschäftig im Kreis rennt.
Ich schrecke zusammen. Ich spüre die Angst in meinem Innern. Die Angst breitet sich aus, bis zum Kinn, bis in die Knie. Aber dann zwinge ich mich, an den Delfin zu denken, dessen Bild zuhause im Wohnzimmer hängt. Es gibt das, diese blaue Freude, es gibt das Glück und das Vertrauen. Auf einmal – unvermittelt – kommt mir der Satz: Herr, erbarme dich! in den Sinn. Ich strecke die Hand nach der Maus aus.
Als erstes suche ich den Satz, den x zitiert hat, und sehe: Es ist richtig, was er gesagt hat. Jesus hat zu den bösen Menschen, zu denen, die verdammt werden sollen, gesagt: »Ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.« Es nützt nichts, denke ich, wenn man die Menschen, die gefangen sind, besucht, man muss sie befreien! Mich hat nie jemand besucht, denke ich, aber dann kommt mir der Verdacht, dass ich es vielleicht gar nicht bemerkt habe, falls jemand doch gekommen ist. Meine Hand krampft sich um die Maus.
Ich suche weiter mit den Begriffen »Befreiung« und »befreien«, finde aber keine sinnvolle Antwort. Der Sekundenzeiger der Uhr zuckt immer weiter, die Minuten vergehen. Dann suche ich mit dem Schlagwort »Freiheit« und finde einen wundervollen Satz: »Der HERR hat mich gesandt, … zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.« Aber das sagt ein Prophet, und der Mann im Rollstuhl hat ja gesagt, dass das nicht gelte. Und jetzt?
Ich tippe »hilf« ein, es kommen viele virtuelle Seiten voll von Zitaten. Ich gehe sie alle durch, eines nach dem anderen, aber es ist nichts dabei, nichts was mir helfen könnte.
Meine Hände zittern. Ich sehe auf dem Bildschirm: noch drei Minuten. Und während ich »drei Minuten« denke, ist der Zeiger auf dem Bildschirm schon wieder vorgerückt. Der Delfin. Ich versuche mir vorzustellen, wie er im Blauen springt. Vielleicht hat er sich von dem Haken an der Wand gelöst, weil er es nicht mehr ausgehalten hat in meinem Wohnzimmer, denke ich, und der Gedanke lässt mich lächeln. In dem Moment höre ich in mir den Satz »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« Es ist ein bekannter Satz, ein Sprichwort sozusagen, jeder kennt diesen Satz, ist er wirklich aus der Bibel? Ich tippe das Stichwort »Liebe deinen Nächsten« ein.
Der Computer bietet wenig Zitate an. Aber schon beim vierten, das ich hastig durchlese, weiss ich, dass ich gewonnen habe.
»Ich hab’s gefunden!«, sage ich laut. x , der am Computer nebenan dabei ist, ein Kreuzworträtsel zu bauen, schaut auf. »Das ist nicht möglich«, sagt er scharf.
»Doch, und die halbe Stunde ist noch nicht um!« Ich weise auf den Bildschirm. Zehn Sekunden, neun Sekunden, acht Sekunden …
Er nickt. »Du bist innerhalb der Zeitlimite.« Er rollt mit dem Stuhl etwas zurück und schaut mich voll an.
»Pass auf«, sage ich. Ich höre mich mit fester Stimme sprechen, aber ich zittere; ich spüre die Angst noch in mir, obschon ich ja voller Freude sein müsste. Ich sage: »Jesus aber antwortete«, und unterbreche mich, »es ist Jesus, das ist ja deine Bedingung, der hier spricht, also: Jesus aber antwortete ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und grösste Gebot««. Und jetzt spreche ich langsam, ganz langsam, dafür aber so laut wie ich kann: »Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst««
»Ja und?«, fragt er. Aber er wirkt nicht
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