Der Rote Sarg
wie Sie sagen. Das einzige Missverständnis, das vorliegt, besteht darin, dass Sie hier reingekommen sind. Sehen Sie nicht, dass das kein Lokal für Sie ist?« Er ließ den Blick über die Tische schweifen, an denen vorwiegend rotgesichtige Männer mit Hängebacken und angegrautem Haar speisten. Manche trugen olivbraune Gabardine-Uniformen mit den Abzeichen hochrangiger Kommissare, andere Zivilkleidung europäischen Zuschnitts aus hochwertigen Stoffen, die so fein gewebt waren, dass sie im Licht der orchideenförmigen Lampen zu schimmern schienen. Zwischen den Offizieren und Politikern saßen schöne, aber gelangweilt wirkende Frauen, die Filterzigaretten rauchten.
»Hören Sie«, sagte Tschitscherin, »selbst wenn Sie hier einen Tisch bekommen würden, bezweifle ich, dass Sie sich das Essen überhaupt leisten könnten.«
»Aber ich bin doch gar nicht zum Essen hier«, protestierte Kirow. »Außerdem koche ich selbst, und mir scheint, Ihr Küchenchef verlässt sich zu sehr auf seine Saucen.«
Verwirrt runzelte Tschitscherin die Stirn. »Sie suchen Arbeit?«
»Nein«, erwiderte der junge Mann. »Ich suche Oberst Nagorski.«
Tschitscherin riss die Augen auf. Er sah zu einem Tisch in der Ecke, wo zwei Männer beim Essen saßen. Beide trugen Anzug. Einer war kahlrasiert, so dass sein breiter Schädel aussah wie rosafarbener Granit, der auf dem weißen Sockel des gestärkten Hemdkragens ruhte. Der andere hatte dichtes, schwarzes, gerade nach hinten gekämmtes Haar. Seine scharfen Wangenknochen wurden durch einen spitz zulaufenden, am Kinn kurzgeschnittenen Bart noch betont, so dass er aussah, als wäre seine Gesichtshaut über ein Holzdreieck gespannt, und das so straff, dass man befürchten musste, die geringste Gefühlsregung könnte die Haut platzen lassen.
»Sie suchen Oberst Nagorski?«, fragte Tschitscherin. Mit einem Nicken wies er auf den Mann mit den dichten schwarzen Haaren. »Nun, da ist er, aber …«
»Danke.« Kirow tat einen Schritt in Richtung Tisch.
Tschitscherin packte ihn am Arm. »Hören Sie, junger Freund, tun Sie sich einen Gefallen und gehen Sie nach Hause. Wer immer Sie hierhergeschickt hat, er versucht nur, Sie umzubringen. Ist Ihnen überhaupt klar, was Sie hier tun? Oder mit wem Sie es zu tun haben?«
Geduldig griff Kirow in seine Jacke und holte ein Telegramm heraus. Die rote Linie oben auf dem dünnen gelben Papier verwies darauf, dass es in einer Regierungsbehörde aufgegeben worden war. »Vielleicht sollten Sie mal einen Blick darauf werfen.«
Tschitscherin riss ihm das Telegramm aus der Hand.
Der Barmann Niarchos, der sich mit zusammengekniffenen Augen drohend vor ihm aufgebaut hatte, wurde beim Anblick des Telegramms nervös. Das Papier sah so dünn, so durchscheinend aus, als könnte es sich jeden Moment in Rauch auflösen.
Tschitscherin stierte auf das Papier, auch nachdem er das Telegramm längst gelesen hatte, so als erwartete er, dass noch mehr Wörter auftauchten.
Kirow nahm ihm das Telegramm aus der Hand und setzte sich in Bewegung.
Diesmal hielt Tschitscherin ihn nicht zurück.
Niarchos trat zur Seite.
Auf dem Weg zum Tisch von Oberst Nagorski zögerte Kirow kurz und betrachtete die diversen Speisen, sog die Gerüche ein, seufzte zufrieden oder grummelte leise beim Anblick der schweren Sahnesaucen und des übermäßigen Gebrauchs von Petersilie. Als der junge Mann endlich vor Nagorskis Tisch stand, räusperte er sich.
Nagorski sah auf. Der über die Wangenknochen gespannten Haut haftete etwas Wächsernes an. »Mehr Blinis für den Kaviar!« Er schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Genosse Nagorski«, sprach Kirow ihn an.
Nagorski hatte sich schon wieder seinem Essen zugewandt, bei der Erwähnung seines Namens aber erstarrte er. »Woher kennen Sie meinen Namen?«, fragte er leise.
»Ihre Anwesenheit ist erforderlich, Genosse Nagorski.«
Nagorski sah zur Theke und hoffte, Blickkontakt mit Niarchos aufnehmen zu können. Der Barmann aber war ganz in das Polieren der Teegläser vertieft. Dann suchte er nach Tschitscherin, aber der Lokalbesitzer war spurlos verschwunden. Schließlich wandte er sich dem jungen Mann zu. »Wo genau ist meine Anwesenheit erforderlich?«, fragte er.
»Darüber wird man Sie unterwegs in Kenntnis setzen«, antwortete Kirow.
Nagorskis Tischgefährte hatte sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt und starrte mit ausdrucksloser Miene vor sich hin.
Während sich vor Nagorski die Speisen türmten, hatte sich der glatzköpfige Riese nur
Weitere Kostenlose Bücher