Der Rote Sarg
die gesamte Goldscheibe zog und in der Mitte, an ihrer dicksten Stelle, den halben Durchmesser ausfüllte. Und in der Mitte dieses weißen Emailleovals steckte ein großer, runder Smaragd. Zusammen bildeten diese Elemente die unverkennbare Gestalt eines Auges. Pekkala würde nie vergessen, wie er die Scheibe zum ersten Mal in der Hand gehalten, mit der Fingerspitze über das Auge gestrichen und die glatte Erhebung des Edelsteins ertastet hatte – wie ein Blinder, der Brailleschrift las.
Aufgrund dieses Abzeichens wurde Pekkala als »das Smaragdauge« bekannt. Sehr viel mehr wusste man über ihn nicht. Es gab keinerlei Fotos von ihm. In Ermangelung von Fakten rankten sich um Pekkala bald Legenden sowie Gerüchte, denen zufolge er kein Mensch sei, sondern eine Art Dämon, der durch die schwarzen Künste eines arktischen Schamanen zum Leben erweckt worden war.
Dienstlich war Pekkala einzig und allein dem Zaren unterstellt. In dieser Zeit lernte er die Geheimnisse des Russischen Reichs kennen, und als dieses Reich unterging und jene, die seine Geheimnisse bewahrt hatten, diese mit ins Grab nahmen, war Pekkala zu seinem großen Erstaunen immer noch am Leben.
Während der Revolution wurde er verhaftet und ins sibirische Arbeitslager Borodok verbannt, wo er die Welt, die er zurückgelassen hatte, zu vergessen suchte.
Aber die Welt hatte ihn nicht vergessen.
Nach sieben einsamen Jahren in den Wäldern von Krasnagoljana, in denen er mehr wie ein wildes Tier denn als Mensch lebte, wurde Pekkala auf Befehl Stalins nach Moskau zurückgebracht.
Und seit dieser Zeit, in der er einen brüchigen Frieden mit seinen früheren Feinden geschlossen hatte, übte Pekkala wieder seine Rolle als Sonderermittler aus.
Tief unterhalb der Moskauer Straßen saß Oberst Rolan Nagorski auf einem Metallstuhl in einer engen Zelle des Lubjanka-Gefängnisses. Die Wände waren weiß gestrichen, eine einzelne Glühbirne, geschützt unter einem verstaubten Eisengitter, erhellte den Raum.
Nagorski hatte sein Jackett ausgezogen und es über die Stuhllehne gehängt. Die Hosenträger spannten sich über seinen Schultern. Als er zu reden begann, krempelte er die Ärmel hoch, als wollte er sich auf eine Schlägerei vorbereiten. »Bevor Sie mich mit Fragen überschütten, Inspektor Pekkala, würde ich Ihnen gern eine stellen.«
»Nur zu«, sagte Pekkala. Er saß dem Oberst auf einem gleichen Metallstuhl gegenüber. Der Raum war so klein, dass sich ihre Knie fast berührten.
Trotz der stickigen Luft hatte Pekkala seinen Mantel anbehalten. Er wies einen altmodischen Schnitt auf: schwarz, knielang, kurzer Kragen, verdeckte Knopfleiste, linksgeknöpft. Er saß unnatürlich gerade wie jemand mit Rückenschmerzen. Grund dafür war die Waffe, die er über die Brust geschnallt hatte.
Es handelte sich um einen .455er Webley-Revolver mit Messinggriff und einem nadeldünnen Loch im Lauf unmittelbar hinter dem Korn, das den Rückschlag der Waffe verringerte. Eine Modifikation, die nicht für Pekkala, sondern für den Zaren vorgenommen worden war, der den Revolver als Geschenk von seinem Vetter König George V. erhalten hatte. Der Zar hatte ihn dann Pekkala geschenkt. »Ich habe keine Verwendung dafür«, hatte der Zar ihm gesagt. »Wenn meine Feinde mir so nahe kommen, dass ich eine Waffe wie diese einsetzen müsste, dann würde sie mir auch nicht mehr nützen.«
»Ich möchte Sie Folgendes fragen«, sagte Nagorski. »Warum glauben Sie, ich würde ausgerechnet an jene Leute das Geheimnis meiner Erfindung verraten, gegen die wir diese Erfindung möglicherweise einsetzen müssen?«
Bevor Pekkala darauf etwas erwidern konnte, fuhr Nagorski bereits fort.
»Sie sehen also, ich weiß, warum ich hier bin. Sie glauben, ich wäre für die Sicherheitslücke beim Konstantin-Projekt verantwortlich. Ich bin weder so naiv noch so uninformiert, dass ich nicht weiß, was um mich herum vorgeht. Deshalb findet sämtliche Entwicklungsarbeit in einer abgeschotteten Anlage statt. Der gesamte Stützpunkt ist vollkommen abgeriegelt, alles wird von mir persönlich kontrolliert. Jeder, der dort arbeitet, wurde von mir genauestens überprüft. Nichts geschieht, ohne dass ich davon erfahren würde.«
»Was uns zu dem Grund zurückbringt, warum Sie hier sind.«
Nagorski beugte sich vor. »Ja, Inspektor Pekkala. Genau, und Ihnen wäre einiges an Zeit erspart geblieben, und ich hätte mein sündhaft teures Essen nicht abbrechen müssen, wenn ich Ihrem Laufburschen einfach hätte
Weitere Kostenlose Bücher