Der Rote Sarg
unterbrach ihn Pekkala.
»Ich konnte nicht zurück nach Russland, also habe ich mich zur französischen Fremdenlegion gemeldet. Männer aus der ganzen Welt, die sich bei Kriegsausbruch im falschen Land befunden hatten und nun nicht mehr nach Hause konnten, trafen dort zusammen. Ich war schon fast zwei Jahre bei der Legion, als wir in der Nähe vom Dorf Flers auf Panzer stießen. Wir hatten von diesen Maschinen gehört. Die Briten hatten sie 1917 in der Schlacht bei Cambrai zum ersten Mal gegen die Deutschen eingesetzt. Im folgenden Jahr hatten die Deutschen dann eigene Panzer. Ich hatte sie bis dahin noch nie gesehen, und dann mussten wir gegen sie antreten. Mein erster Gedanke war: Wie langsam sie sich bewegen! Sechs Kilometer in der Stunde. Fußgängertempo! Sie hatten nichts Elegantes an sich, es war, als würde man von riesigen Kakerlaken aus Eisen angegriffen. Drei der fünf Maschinen fielen aus, bevor sie uns überhaupt erreichten, einer wurde von der Artillerie zerstört, dem letzten gelang es schließlich zu entkommen. Zwei Tage später fanden wir ihn ausgebrannt am Straßenrand liegen, wahrscheinlich ein Motorschaden.«
»Das klingt nicht sehr beeindruckend.«
»Nein. Ich sah, wie diese Eisenungetüme vernichtet wurden oder stotternd von allein zum Halt kamen, und trotzdem wusste ich, dass die Zukunft diesen Maschinen gehört. Das war keine vorübergehende Mode wie die Armbrust oder die Blide. Mir war sofort klar, wie man die Konstruktion verbessern könnte. Mir schwebten Dinge vor, die noch gar nicht erfunden waren, die ich mir aber in den kommenden Monaten ausdachte und auf allen Zetteln, die ich nur auftreiben konnte, skizzierte. Diese Zettel brachte ich nach Kriegsende mit nach Russland.«
Pekkala kannte den Rest der Geschichte. Eines Tages war Nagorski in das neugegründete sowjetische Patentamt in Moskau marschiert und hatte über zwanzig unterschiedliche Konstruktionspläne dabei, die ihm schließlich die Leitung des T-34-Projekts eintrugen. Bis dahin hatte er sein Dasein auf den Moskauer Straßen gefristet und den Männern, über die er später den Befehl hatte, die Schuhe geputzt.
»Kennen Sie die Grenze meines Entwicklungsbudgets?«, fragte Nagorski.
»Nein«, antwortete Pekkala.
»Können Sie auch nicht, denn es gibt nämlich keine«, sagte Nagorski. »Genosse Stalin weiß ganz genau, wie wichtig dieses Fahrzeug für die Sicherheit unseres Landes ist. Daher kann ich so viel Geld ausgeben, wie ich will, ich kann mir nehmen, was ich brauche, und jedem nach Belieben alles auftragen, was mir nützlich erscheint. Sie beschuldigen mich, die Sicherheit des Landes aufs Spiel gesetzt zu haben? Wenn das jemandem vorzuwerfen ist, dann eher dem Mann, der Sie hierhergeschickt hat. Sagen Sie dem Genossen Stalin, wenn er weiterhin in diesem Tempo Angehörige der sowjetischen Streitkräfte verhaftet, wird bald keiner mehr da sein, der meine Panzer steuern kann, selbst wenn er mich meine Arbeit machen lässt!«
Nagorskis wahre Macht lag nicht in dem Geld, über das er verfügte, sondern in der Tatsache, dass er Aussagen wie diese äußern konnte, ohne fürchten zu müssen, mit einer Kugel im Kopf zu enden. Pekkala erwiderte nichts darauf – nicht aus Angst vor Nagorski, sondern weil er wusste, dass er recht hatte.
Aus Furcht, die Macht zu verlieren, hatte Stalin Massenverhaftungen angeordnet. In den zurückliegenden eineinhalb Jahren waren über eine Million Menschen verhaftet worden, darunter der Großteil des sowjetischen Oberkommandos. Die Offiziere waren entweder erschossen oder in den Gulag geschickt worden.
»Na«, schlug Pekkala vor, »vielleicht hat sich Ihre Gesinnung ja geändert. Wäre doch möglich, dass Sie unter dem Eindruck dieser Ereignisse versucht sein könnten, alles wieder rückgängig zu machen.«
»Indem ich meine Geheimnisse dem Gegner überlasse, meinen Sie?«
Pekkala nickte. »Das wäre eine Möglichkeit.«
»Wissen Sie, warum es das Konstantin-Projekt heißt?«
»Nein, Genosse Nagorski.«
»Konstantin ist der Name meines Sohnes, meines einzigen Kindes. Sie verstehen, Inspektor, dieses Projekt ist mir so heilig wie meine Familie. Ich würde nie zulassen, dass ihm Schaden zugefügt wird. Manche wollen das nicht verstehen. Sie halten mich für eine Art Dr. Frankenstein, der davon besessen ist, ein Ungeheuer zum Leben zu erwecken. Sie sehen nicht den Preis, den ich dafür zu zahlen habe. Wenn man einfach nur sein Leben leben will, kann Erfolg ebenso großen Schaden anrichten
Weitere Kostenlose Bücher