Der Rote Sarg
wie Misserfolg. Meine Frau und mein Sohn haben sehr darunter zu leiden.«
»Das verstehe ich«, sagte Pekkala.
»Tun Sie das?«, fragte Nagorski fast flehentlich. »Wirklich?«
»Wir haben beide schwierige Entscheidungen getroffen«, sagte Pekkala.
Nagorski nickte und starrte gedankenverloren in eine Ecke der Zelle. Plötzlich wandte er sich wieder Pekkala zu. »Dann sollten Sie wissen, dass alles, was ich Ihnen erzählt habe, der Wahrheit entspricht.«
»Entschuldigen Sie mich, Oberst Nagorski«, sagte Pekkala. Er verließ die Zelle und ging durch den mit Metalltüren gesäumten Korridor. Seine Schritte erzeugten auf dem grauen Industrieteppich kaum ein Geräusch. Alles war gedämmt und gedämpft, als wäre dem gesamten Gebäude die Luft entzogen worden. Am Ende des Korridors war eine Tür nur angelehnt. Pekkala klopfte an und trat ein. Drinnen stand so dick der Rauch, dass Pekkala meinte, er atme Asche ein.
»Und, Pekkala?«, erklang eine Stimme. Auf einem Stuhl in der Ecke des ansonsten leeren Zimmers saß ein stämmiger Mann mittlerer Größe mit pockennarbigem Gesicht und einer verkümmerten linken Hand. Das dichte, schwarze Haar war glatt nach hinten gekämmt, ein buschiger, von grauen Strähnen durchzogener Schnauzer wölbte sich über die Oberlippe. Er rauchte eine Zigarette, von der nur noch so viel übrig war, dass sich die Glut nach einem weiteren Zug in die Haut gefressen hätte.
»Nun ja, Genosse Stalin«, sagte Pekkala.
Stalin drückte die Zigarette an der Schuhsohle aus und stieß grauen Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Was halten Sie von unserem Oberst Nagorski?«
»Ich denke, er sagt die Wahrheit«, antwortete Pekkala.
»Ich bin da anderer Meinung«, sagte Stalin. »Vielleicht sollte Ihr Assistent ihn befragen.«
»Major Kirow?«, sagte Pekkala.
»Ich weiß, wie er heißt!«, brauste er auf.
Pekkala verstand, warum. Die Erwähnung von Kirows Namen sorgte jedes Mal dafür, dass Stalin die Nerven verlor. So hatte auch der fünf Jahre zuvor ermordete Leningrader Parteichef geheißen. Kirows Tod lastete schwer auf Stalin, nicht weil er eine besondere Zuneigung zu ihm gefasst hatte, sondern weil dessen Tod ihm eines deutlich machte: Wenn schon jemand wie Kirow umgebracht werden konnte, dann war Stalin vielleicht als Nächster an der Reihe. Seit Kirows Tod hatte Stalin die Öffentlichkeit gemieden und sich nicht mehr unter die Menschen gewagt, über die er zwar noch herrschte, denen er aber nicht mehr vertraute.
Stalin knetete die Hände und ließ nacheinander die Knöchel knacken. »Das Konstantin-Projekt ist verraten worden, und dahinter steckt meiner Ansicht nach Nagorski.«
»Dafür gibt es keinerlei Beweise«, sagte Pekkala. »Wissen Sie von Dingen, von denen Sie mir nichts gesagt haben, Genosse Stalin? Haben Sie Beweise, die Sie mir vorlegen können? Oder handelt es sich nur um eine der unzähligen Verhaftungen, so dass Sie in diesem Fall auch einen x-beliebigen Ermittler darauf ansetzen könnten?«
Stalin rollte den Zigarettenstummel zwischen den Fingern. »Wissen Sie, wie viele so mit mir reden dürfen?«
»Nicht viele, denke ich mir«, antwortete Pekkala. Jedes Treffen mit Stalin offenbarte nur die emotionale Leere dieses Mannes. Das lag an seinen Augen. Seine Miene mochte sich ändern, der Ausdruck seiner Augen änderte sich nie. Wenn Stalin lachte, wenn er jemandem schöntat oder, falls dies nichts nützte, wenn er jemandem drohte, dann war es, als würde man dem Maskenwechsel in einer japanischen Kabuki-Aufführung beiwohnen. Manchmal, wenn auf die eine Maske die nächste folgte, glaubte Pekkala kurz zu erkennen, was dahinterlag. Und was er dort sah, erfüllte ihn mit Angst. Dagegen konnte er sich nur schützen, wenn er so tat, als hätte er es nicht gesehen.
Stalin lächelte, und plötzlich hatte sich die Maske erneut verändert. »Nicht viele, das stimmt. Keiner, damit wäre es noch treffender beschrieben. Sie haben recht, ich habe andere Ermittler, aber dieser Fall ist zu wichtig.« Dann steckte er den Zigarettenstummel in die Tasche.
Pekkala sah es nicht zum ersten Mal. Eine seltsame Angewohnheit, hier in einer Stadt, wo selbst die Ärmsten ihre Kippen auf den Boden warfen. Seltsam für jemanden, der es auf vierzig Zigaretten am Tag brachte und niemals Angst haben musste, dass sie ihm ausgingen. Es musste etwas dahinterstecken, vielleicht eine Geschichte, die möglicherweise auf seine Zeit als Bankräuber in Tiflis zurückging. Vielleicht, ging Pekkala durch den Kopf,
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