Der Ruf der Kiwis
die ihre Großmutter Marama für die Maori-Jungen nähte –, doch Jack fand, dass Gloria die kurzen Locken wunderbar standen, und auch die weiten Reithosen passten besser zu ihrem kräftigen, etwas gedrungenen Körper als Kleider. Was die Figur betraf, schlug Gloria nach ihren Maori-Ahnen. Mode nach westlichem Schnitt würde sie nie vorteilhaft kleiden.
»Von ihrer Mutter hat das Mädchen nun wirklich gar nichts«, bemerkte auch James McKenzie. Er hatte die Ankunft Jacks und Glorias vom Erker in Gwyneiras Schlafzimmer aus beobachtet. Dort saß er inzwischen gern; der luftige Aussichtspunkt gefiel ihm besser als die bequemeren Sessel im Salon. James war kurz zuvor achtzig geworden, und das Alter machte ihm zu schaffen. Seit einiger Zeit quälten ihn Gelenkschmerzen, die ihm jede Bewegung schwer machten. Dabei hasste er es, sich auf einen Stock zu stützen. Er gab nicht gern zu, dass die Treppe hinunter zum Salon ein immer größeres Hindernis für ihn darstellte, deshalb redete er sich lieber damit heraus, von seinem Erkerplatz aus das Geschehen auf der Farm leichter überwachen zu können.
Gwyneira wusste es besser: James hatte sich im vornehmen Salon auf Kiward Station nie wirklich wohlgefühlt. Seine Welt waren stets die Mannschaftsunterkünfte gewesen. Nur Gwyn zuliebe hatte er sich damit abgefunden, das hochherrschaftliche Anwesen zu bewohnen und seinen Sohn hier aufzuziehen. James hätte seiner Familie lieber ein Blockhaus gebaut und vor einem Kamin gesessen, für den er selbst das Brennholz geschlagen hatte. Dieser Traum verlor allerdings an Attraktivität, je älter er wurde. Inzwischen fand er es angenehm, einfach nur die Wärme zu genießen, für die Gwyneiras Dienstboten sorgten.
Gwyneira legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute nun ebenfalls zu Gloria und ihrem Sohn hinunter.
»Sie ist wunderschön«, sagte sie. »Wenn sich eines Tages der passende Mann für sie findet ...«
James verdrehte die Augen. »Nicht schon wieder!«, seufzte er. »Gott sei Dank läuft sie den Kerlen noch nicht nach. Wenn ich da an Kura und diesen Maori-Knaben denke, der dir solches Kopfzerbrechen bereitet hat ... Wie alt war sie damals? Dreizehn?«
»Sie war nun mal frühreif!«, verteidigte Gwyneira ihre Enkelin. Sie hatte Kura immer geliebt. »Ich weiß, du magst sie nicht besonders. Aber ihr Problem bestand eigentlich nur darin, dass sie nicht hierher gehörte.«
Gwyneira bürstete ihr Haar, bevor sie es aufsteckte. Es war immer noch lang und lockig, auch wenn das Weiß darin immer mehr über das Rot triumphierte. Ansonsten sah man der inzwischen fast Dreiundsiebzigjährigen ihr Alter kaum an. Gwyneira McKenzie-Warden war schlank und drahtig wie in ihrer Jugend. Ihr Gesicht wirkte zwar mittlerweile hager und war von kleinen Fältchen durchzogen, aber sie hatte ihre Haut nie vor Sonne und Regen geschützt. Das Leben einer Dame der feinen Gesellschaft lag ihr nicht, und allen Fährnissen des Daseins zum Trotz betrachtete sie es nach wie vor als Glücksfall, dass sie ihr adeliges Elternhaus in Wales im Alter von siebzehn Jahren verlassen hatte, um in einer neuen Welt ein riskantes Eheabenteuer zu wagen.
»Kuras Problem lag darin, dass ihr niemand das Wort Nein beigebracht hat, als sie noch aufnahmefähig war«, brummte James. Sie hatten diese Diskussion über Kura schon tausendmal geführt; es war im Grunde das einzige Thema, das jemals für Sprengstoff in James’ und Gwyneiras Ehe gesorgt hatte.
Gwyn schüttelte missbilligend den Kopf. »Das klingt ja schon wieder, als hätte ich Angst vor Kura gehabt«, sagte sie unwillig. Auch dieser Vorwurf war nicht neu, obwohl er ursprünglich nicht von James gekommen war, sondern von Gwyns Freundin Helen O’Keefe – und schon der Gedanke an Helen, die im Jahr zuvor gestorben war, versetzte Gwyn einen Stich.
James zog die Augenbrauen hoch. »Angst vor Kura? Die hattest du doch nie!«, neckte er seine Frau. »Deshalb schiebst du ja auch seit drei Stunden diesen Brief, den der alte Andy gebracht hat, auf dem Tisch hin und her. Mach ihn schon auf, Gwyn! Zwischen dir und Kura liegen achtzehntausend Meilen. Sie wird dich nicht beißen!«
Andy McAran und seine Frau lebten in Haldon, dem nächsten kleinen Ort. Im dortigen Postamt lagerten die Briefe für Kiward Station, und Andy betätigte sich gern als Briefträger, wenn Post aus Übersee eintraf. Im Gegenzug erwartete er – wie sämtliche männlichen und weiblichen Klatschbasen in Haldon – ein bisschen Tratsch über
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