Der Ruf der Steine
vermieden, den Jungen mitzunehmen, weil er in seinen Augen noch viel zu jung war. Doch aus Angst, dass der Tod im Lauf der Zeit zu einem Tabu, zu einer übermächtigen Figur werden könnte, hatte er sich heute anders entschieden. Der Junge sollte sich nicht in etwas hineinsteigern. Der Tod war so natürlich wie das Leben, und ein Sechsjähriger war alt genug, um das zu begreifen – auch wenn er es am Grab seiner Mutter lernen musste.
»War sie schön, Daddy?« Andy hatte mit dunklen, feuchtschimmernden Augen zu ihm aufgesehen. Mit Lindas Augen.
»Ja, sehr schön.«
»Wie auf dem Bild in meinem Zimmer?«
»Ja.«
Andy hielt den kleinen Strauß rosafarbener Geranien umklammert. »Werde ich Mom wieder sehen, wenn ich sterbe?«
»Natürlich, aber das wird noch lange Zeit dauern.«
»Warum musste sie sterben, Dad?«
Die Frage hatte Peter ins Herz geschnitten. Weil ich sie getötet habe.
»Willst du die Blumen nicht hinlegen, Andy?«
Der Junge hatte an dem Sträußchen gerochen und es dann vor den Grabstein gelegt. Dabei hatte er sich umgesehen, als ob er vielleicht in den Bäumen und Büschen ein Zeichen des Trostes entdecken könnte. Aber da war nichts.
»Geh zum Teufel, Peter.«
Es war zweieinhalb Jahre her. Ein Streit über Sicherheitsvorkehrungen für Kinder in der Küche. Linda war aus dem Haus gestürzt und mit dem Auto davongefahren. Eine Nacht mit Eisregen. Sie war zu schnell um eine Kurve gefahren. Eine große Eiche hatte die Fahrt beendet, und die Flammen hatten ihr Leben vernichtet.
Er konnte das Geschehene nicht ändern. Er konnte Linda nicht wieder lebendig machen. Sie war in der Hitze des Augenblicks gestorben, und er beinahe vor Kummer. Diese Liebe war ein Grundpfeiler seiner Existenz. Monatelang hatte er nicht gewusst, ob er es überleben würde. Nie hätte er gedacht, dass Schuldgefühle und Verzweiflung so gefräßig waren. Er hatte sich in die Arbeit gestürzt, aber die Membran zwischen ihm und dem Sog seiner schwarzen Gedanken war immer nur hauchdünn gewesen. Andy war seine Rettung gewesen. Der Junge brauchte einen Vater. Seitdem konzentrierte Peter alle Kräfte darauf, Andy ohne Mutter großzuziehen – und betrachtete seine Mühen zu einem nicht gerade kleinen Teil als Sühne.
» Geh zum Teufel, Peter.«
In der Nacht, als sie starb, hatte Linda eine lilafarbene Strumpfhose getragen und weiße Aerobic-Schuhe. Und ihr Herz war von Hass erfüllt gewesen.
Zeit seines Lebens würde er sich fragen, was sie gedacht hatte, als er das Messer erhoben hatte – ob sie tatsächlich befürchtet hatte, dass er es benutzen könnte? Und stets würde er sich fragen, was sie gedacht hatte, als die Flammen sie erfassten.
»Daddy, erinnerst du dich, wie Mom immer mit mir gerauft und mich gekitzelt hat?«
»Ja, sie hat dich zum Lachen gebracht.«
»Das stimmt. Aber du bist trotzdem das beste Monster der Welt.«
Er fühlte noch immer das Messer in seiner Hand – ein fünfzehn Zentimeter langes Ding aus Molybdänstahl mit einem Griff aus Hirschgeweih und einem goldenen Schild mit seinen eingravierten Initialen. Es hatte fast dreihundert Dollar gekostet. Linda hatte es ihm zum letzten gemeinsamen Vatertag geschenkt. »Scharf und nur für Eingeweihte bestimmt – wie du, Big Daddy«, hatte sie auf die Karte geschrieben.
Er hatte im Keller den undichten Schlauch der Waschmaschine damit abgeschnitten.
» Verdammt, er hätte ersticken können.«
Linda war wegen eines Küchenschranks gestorben. Es gab acht Zimmer im Haus, aber Andy kroch am liebsten in den Schrank unterhalb des Spülbeckens. Ganz gleich, wie oft man es ihm verbot – er tat es immer wieder. Auch an diesem Abend, als Linda nach oben gegangen war, um sich umzuziehen, und Peter im Keller den Schlauch der Waschmaschine repariert hatte. Inmitten von Putzmitteln und Topfreinigern war Andy schon fast zur Hälfte im Mülleimer verschwunden gewesen.
»Andy!« Ihr Aufschrei war so entsetzlich gewesen, dass Peter befürchtet hatte, einen Toten vorzufinden, wenn er nach oben kam. »Verdammt, Peter, er hätte ersticken können!«
»Wie, zum Teufel, soll ich die Waschmaschine reparieren und gleichzeitig auf Andy aufpassen?« Blankes Entsetzen war der Grund für seine heftige Reaktion gewesen. Das Messer hatte er noch in der Hand gehalten. »Und wo warst du, wenn ich fragen darf?«
»Wo ich war?« Linda war so empört gewesen, dass sie kaum hatte sprechen können. »Himmel … ich habe dir doch gesagt, dass ich nach oben gehe! Muss man dir
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