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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Goshgarian
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hatte. Wieder und wieder riefen sie, doch Bilbo reagierte nicht. Ungefähr auf der Hälfte des Abhangs glitten seine Beine in eine Kuhle, als dünne Sandschichten über ihn herunterrutschten, doch er wühlte sich wieder heraus und verschwand schließlich über der oberen Kante der Klippe.
    Es war Vinnie ein Rätsel, was genau Bilbo verfolgte. Er wirkte äußerst entschlossen, und es bedeutete eine gewaltige Energieverschwendung, ihm in diesem Zustand folgen zu wollen. Ohne Zweifel würde er hechelnd angesprungen kommen, sobald er sich ausgetobt hatte. Carla jedoch war völlig außer sich, und so kletterten sie über den abrutschenden Sand hinter ihm her.
    »Vermutlich jagt er ein Kaninchen«, keuchte Carla, als sie oben waren.
    »Mag sein. Oder er muss dringend pissen.«
    Erst jetzt realisierte Vinnie, wie hoch sie hinaufgeklettert waren – sie standen ungefähr zwanzig oder auch zweiundzwanzig Meter über dem Strand auf einer Art flachem Tafelberg, der den östlichen Ausläufer der Insel bildete. Als er seinen Blick über die Fläche schweifen ließ, erblickte er etwas, das ihn erschauern ließ: Am äußersten Ende des Plateaus stand völlig reglos eine dunkle Gestalt. Sie schwenkte den Strahl der Taschenlampe hin und her.
    Nichts. Nur Sterne und ein indigoblauer Nachthimmel. Dabei hätte er schwören können, dass noch Augenblicke zuvor jemand dort gestanden hatte. Er atmete tief durch, um seine Wahrnehmung zu schärfen. Vermutlich hatte ihn das heftig pulsierende Blut in seinen Augenhöhlen genarrt. Eine einfache optische Täuschung.
    Doch die Bewegung zu ihrer Rechten war keine Täuschung. Er schwenkte den Strahl der Taschenlampe über eine ausgedehnte kreisrunde Erhebung direkt vor ihnen auf der Klippe. In wilden Sprüngen hetzte Bilbo über den flach abfallenden Hügel japsend hinter etwas her. Carla rief ihn, aber er rannte unbeirrt weiter. Wahrscheinlich verfolgte er ein Kaninchen oder eine Maus. Doch als sie näher kamen, sahen sie, dass kein Nachtgetier die Ursache war, sondern lediglich ein kleiner Staubwirbel. Ein kleiner Wirbelwind aus welken Blättern kreiste über den kahlen Hügel, als ob er nach einem Ruheplätzchen suchte. Doch dann bohrte sich das Ding plötzlich mit einer Drehung um die eigene Achse in einen winzigen Punkt und verschwand.
    Stille. Absolute Stille. Kein Sirren des Windes, kein Jaulen, nicht einmal das Zirpen der Grillen war zu hören. Sogar das Geräusch der Brandung war verstummt, als ob jemand den Ton abgedreht hätte.
    Vinnie näherte sich Bilbo bis auf drei Meter. Der Hund stand wie angewurzelt da und starrte auf die Stelle, wo der kleine Wirbelwind verschwunden war.
    »Bilbo? Bilbo … was ist los?«
    Der Hund fixierte den Erdboden, als ob er seine Beute in die Enge getrieben hätte und bei der nächsten Bewegung zuschnappen wollte.
    Carla trat noch einen Schritt näher. »Lass es gut sein, Bilbo. Komm zu Carla.«
    Urplötzlich riss der Hund den Kopf herum und starrte mitten in den Strahl der Lampe. Gleichzeitig ertönte ein mächtiges Knurren, das unmöglich von ihm kommen konnte. Es schien von etwas Gewaltigem unter dem Erdboden heraufzudröhnen. Im dichten Fell glühten die Augen, und die weit zurückgezogenen Lefzen entblößten scharfe, wütend gefletschte Zähne.
    »Mein Gott … er ist tollwütig.«
    Vinnie sagte nichts darauf, aber er dachte bei sich: Nein, nicht tollwütig, eher besessen.
    Sekunden später drehte sich der Kopf wieder weg, und der Hund begann, wie besessen mit den Vorderpfoten zu graben.
    »Was sucht er bloß?«
    »Wahrscheinlich einen Maulwurf oder so etwas.« Aber Vinnie glaubte es auch nicht. Selbst wenn Bilbo etwas gewittert hatte, erklärte das nicht die gefletschten Zähne. Und das Knurren erst recht nicht. Was, in Gottes Namen, ging hier vor?
    »Vinnie, ich habe Angst.«
    Er wollte sie trösten, aber er fand keine Worte. Sein Verstand sträubte sich, das zu verarbeiten, was seine Augen sahen: Bilbo wühlte Sand, Muscheln und kleine Kieselsteine hervor. Wie bei einer Cartoonfigur verharrte der Körper immer in derselben Position, während die Beine wie Rotoren auf höchster Stufe arbeiteten. Doch dies war keine Road-Runner-Jagd. Bilbo schien sich tiefer und tiefer in den Untergrund hineinzuwühlen. Er riss sogar kleinere Felsbrocken heraus und schleuderte sie unter Knurren beiseite – sie passten kaum in sein Maul und waren viel zu schwer, als dass ein Hund seiner Größe sie wie Walnüsse hätte herumschleudern können. Seine Beine rasten,

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