Der Ruf der Steine
jedes Mal sagen, dass du auf ihn aufpassen sollst?«
»Aber er weiß genau, dass er dort nichts verloren hat. Ich habe es ihm schon hundertmal gesagt.«
»Peter, er ist drei Jahre alt!«, hatte sie geschrien. »Wenn du die verdammten Schlösser angebracht hättest, wäre nichts passiert! Seit Monaten versprichst du es schon!«
»Wenn das deine einzige Sorge ist, dann bringe sie doch selbst an! Du bist doch nicht hilflos – ein Schraubenzieher ist alles, was du dazu brauchst!«
Ihre schwarzen Augen hatten gefunkelt. »Geh zum Teufel, Peter!« Worte, hart wie Kieselsteine. »Von mir aus kannst du den ganzen Tag lang Dreck sieben!«
Sie hatte eine empfindliche Stelle getroffen, und Peter hatte rotgesehen. Mit dem Messer in der Hand war er einen Schritt auf sie zugegangen und hatte es in den Fleischerblock zwischen ihnen gerammt.
Mehrere Sekunden hatte sie das vibrierende Messer angestarrt. »Wie kannst du nur?«, hatte sie schließlich gefragt. Und dann: »Wie kannst du nur!«
Ihre letzten Worte.
Dann war sie aus dem Haus gestürmt. Mit ungläubiger Miene war sie davongerannt, und Andy hatte gebrüllt. Die Hintertür war ins Schloss gekracht, und dann war ihr Wagen die Einfahrt entlang- und auf die Straße hinausgeschossen. Andy war vom Stuhl heruntergeklettert und weinend zur Tür gelaufen. Peters Magen hatte sich zusammengezogen. Während sie sich Luft machte, würde er Andy beruhigen, Essen kochen, den Kleinen füttern, ihn baden, ihm etwas vorlesen und ihn irgendwie zu Bett bringen. Sobald der letzte Topf gespült war, würde Linda voller Reue zurückkehren – der immer gleiche Wechsel von Streit und Versöhnung. Sie würden sich küssen, und später würden sie einander lieben.
»Es wird alles gut, kleiner Mann.« Er hatte den Jungen an seine Brust gedrückt. Der Kleine war außer sich gewesen. »Mommy wird gleich zurückkommen. Und du kriechst nicht mehr unter das Spülbecken, nicht wahr? Abgemacht?«
Um acht Uhr zehn hatte ein Anruf vom Mount Auburn Hospital sein bisheriges Leben beendet. Zwei Tage später war Linda in einem Sarg nach Hause zurückgekehrt. Mit brennendem Herzen war sie gestorben.
Obgleich der Gedanke an ihren Tod noch immer unverändert schmerzte, hatte Peter damit umgehen gelernt. Und die Arbeit an Merritts ungewöhnlichem Fund würde den Sommer sehr viel erträglicher gestalten.
»Fahren wir jetzt zur Geisterinsel, Dad?«, fragte Andy, als sie in den Storrow Drive einbogen.
»Aber klar, Pooch.«
»In Wirklichkeit gibt es keine Geister, oder?«
»Es sieht so aus, aber wer weiß das schon genau.«
»Ich wünschte, es gäbe welche.«
»Ich auch.«
»Sicher?«
»Sicher.«
Eine knappe halbe Stunde später stellte Peter seinen Jeep in einem Parkhaus nahe beim New England Aquarium ab. Wegen des Feiertags und der Ferien tummelten sich zahlreiche Touristen und Studenten am Wasser. An einem Schalter kauften Peter und Andy zwei Tickets für die Fahrt durch den Hafen und schlenderten dann an einer bescheidenen Statue von Christopher Kolumbus vorbei die Atlantic Avenue entlang, wo eine kleine Kapelle Marschmusik spielte. Auf der Plaza vor dem Aquarium drängten sie sich durch die Menschenmenge und sahen bei der Robbenfütterung in einem Außenbecken zu. Dann erstanden sie Popcorn und Gingerale und schließlich wegen der starken Sonnenstrahlung noch eine weiße Kappe mit grüner Aufschrift für Andy: B OSTON – H OME OF THE C ELTICS .
Danach gingen sie Hand in Hand zu einem weißen Schiff am Pier. Von den Inseln in der Hafenbucht, wo Peter und Andy den größten Teil des Sommers mit der Erforschung von drei ungewöhnlichen Steinen verbringen sollten, waren nur durchsichtige Erhebungen im blassblauen Dunst auszumachen.
An einer kleinen unabhängigen Kunstschule nördlich der Stadt, dem Samuel-Adams-College, arbeitete Peter als Dozent für Archäologie und Indianische Kultur. Sein Einkommen war nicht gerade üppig, und deshalb übernahm er hin und wieder an Wochenenden und während des Sommers kleinere Auftrags-Grabungen. Im Lauf der Jahre war sein Interesse am Freilegen alter Vorratskeller und viktorianischer Toiletten jedoch merklich erlahmt. Er unterrichtete zwar immer noch gern, aber sogar die Archäologie der indianischen Kultur, die eigentlich sein Spezialgebiet war, ermüdete ihn zusehends. Im Vergleich zur griechisch-römischen Kultur, der der Mayas oder sogar der Kultur der europäischen Bronzezeit wühlte er ausschließlich im Boden und hatte nach zwölf Jahren nur ein
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