Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
allen die Hand und erklärte mit leicht forschem Ton, als wolle er eine ihm peinliche Situation überspielen, er habe seiner Frau versprechen müssen, Samariter zu spielen.
»Ich muß den alten Mann zu seiner Enkeltochter bringen, damit er im Fest nicht allein ist«, sagte er. »Sie wissen doch, wie Frauen sind: Weihnachten macht sie rührselig.«
Chief Monroe schlug Coats lachend auf die Schulter. Er warf nur einen kurzen Blick in die Ecke, und als Timothy ihm mit schiefem Kopf dümmlich zulächelte, wandte er sein Gesicht schnell wieder ab.
In der Halle fuhr Coats den Stuhl, wie sie es verabredet hatten, zuerst an den Blumenstand und kaufte einen Weihnachtsstern, dabei bewegte er wie zufällig den Rollstuhl hin und her, so daß Timothy in alle Richtungen blicken konnte. Nur die üblichen Wachen patrouillierten durch die Menge, nirgends waren die Farben eines Jägers zu sehen, und ein Blick durch die Frontscheiben verriet, daß draußen kein Suchmobil wartete.
Timothy blinzelte Coats zu. Sie drängten sich gegen den Strom der abendlichen Passanten zum Ausgang durch, die Safemen warfen nur einen flüchtigen Blick herüber. Der Hausmeister war viel zu bekannt, als daß jemand ihn verdächtigen würde, und in diesem Tattergreis, der offensichtlich schon so gaga war, daß er nicht mal mehr den Rollstuhl alleine bedienen konnte, vermutete niemand die von aller Welt gesuchte ZehnMillionen-Dollar-Beute. Zwerg sein, dachte Timothy, hat auch sein Gutes: Wer normal groß aussieht, wird schon im Unterbewußtsein automatisch aussortiert.
Vor dem »Nebraska« klappte Coats den Notsitz aus und setzte sich mit auf den Stuhl. Obwohl die Straße fast leer war, hielten sie sich in der Mitte; hier konnten sie am ehesten bemerken, wenn vor ihnen eine Polizeistreife oder ein Jagdkommando auftauchte. Die State Street war lichtüberflutet, alle öffentlichen Gebäude und Büros waren erleuchtet geblieben, überall standen riesige, illuminierte Kunststofftannen; nicht nur von den Hauswänden schrie die Reklame, quer über die Straße spannten sich dicht an dicht grelleuchtende Lichtbänder und schütteten ihre Botschaft aus: Kauft, kauft, kauft!
Die Luft war überraschend mild: lau und fast ohne Schadstoffe. Timothy mußte nicht einmal husten, dabei schien es ihm, als fielen vereinzelte Nieseltröpfchen. Er blickte in den Himmel. Im Licht der Hochhausscheinwerfer blitzten nicht nur Flugzeuge auf, sondern auch kleine, flirrende Schwärme. Wenn es Schnee war, dann schmolzen die Flocken und verdampften, bevor sie die dunstige Smogschicht durchdringen und den Boden erreichen konnten.
Die wenigen Polizisten kümmerten sich nicht um die Passanten der Prachtstraße, sie kontrollierten die Zugänge zu den Nebenstraßen; auf dem Boulevard sah man nirgends eine zerlumpte oder heruntergekommene Gestalt, hier gab es auch keine billigen Restaumaten oder gar Filialen der Weihnachtslotterie, wo man für ein paar Cent »Joy and Jobs« 72 gewinnen konnte. An der Ecke Packham Road drängten Polizisten einen Schwarm abgerissener Gestalten zurück, die Packham Road schien überflutet von quirlenden Menschen; sicher war dort eines der Wohlfahrtsämter, in denen die Weihnachtsgaben der Stadtverwaltung für die Ärmsten der Armen verteilt wurden: Lebensmittel, Wasserkonserven und Kleidung, aber auch Free dope. An der Randolph Street ließ Timothy stoppen.
»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte er. »Bringen Sie mich bitte noch durch die Kontrolle, und dann –« Er zog eine Folie hervor und drückte sie Coats in die Hand. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen je danken soll, Buster. Hier ist eine Vollmacht, datiert auf den zwanzigsten Dezember, daß Sie meine Sonic zur Reparatur bringen und dann für mich aufbewahren sollen. Holen Sie Schneewittchen noch heute. Bevor es ein anderer tut. Mehr kann ich Ihnen leider nicht geben.«
»Das ist schon zuviel!« erklärte Coats, auch ihm standen Tränen in den Augen. »Ja, ich werde die Sonic holen, aber nur, um sie aufzubewahren, bis diese Scheiße vorbei ist.«
»Okay, nun aber vorwärts«, sagte Timothy. »Was sollen die Bullen denken, wenn wir beide Rotz und Wasser heulen!«
9.
Fünf Minuten später traf er auf einen Santa Claus. Timothy hängte sich hinter den mächtigen Luftkissenschlitten, auf dem nicht nur eine Tanne und zwei richtige Rentiere Platz gefunden hatten, sondern auch eine Jazzband und eine Show-Truppe, die der angeheiterte Weihnachtsmann aber sicher erst unterwegs aufgegabelt hatte. Die
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