Der Samurai von Savannah
Handtasche nach der kleinen in Geschenkpapier verpackten Schachtel mit süßem Bohnenkonfekt. »Ich hab dir was mitgebracht«, sagte sie und legte das Päckchen auf den Tisch. Der Polizist sah wieder kurz ins Zimmer, dann trat er ein, kam entschlossen auf sie zu, nahm das Päckchen und streckte die Hand nach Ruths Tasche aus. »Durchsuchen werd ich Sie nicht gleich«, sagte er, »aber beobachten tu ich Sie«, dann kehrte er auf seinen Posten zurück.
»Also, wie geht’s dir?«, wiederholte Ruth. »Behandeln sie dich hier gut? Kann ich dir irgendwas besorgen?«
Hiro antwortete nicht.
»Was ist mit deiner Großmutter? Möchtest du, dass ich ihr schreibe? Oder sie anrufe?«
Hiro zeigte keine Reaktion. Wieder herrschte Schweigen. Nach langer Zeit richtete Hiro einen freudlosen Blick auf sie und sagte: »Du mich angelogen hast, Rusu.«
Jetzt war sie an der Reihe. Sie wartete ab.
»In dem Haus«, sagte er mit einer Stimme, die ausgetrocknet klang, verdorrt und an den Wurzeln herausgerissen, »du schuld gewesen. Du ihnen sagst, dass ich bin dort.«
Das war es also. Sie würde keine Rechenschaft wegen des Boots im Sumpf und wegen Turco ablegen müssen – offenbar hatte er das alles vergessen. Er war wieder auf Tupelo mit ihr. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, dass sie es war, die ihn verraten hatte. »Nein«, sagte sie.
»Ja. Du niemals mich mitnehmen wolltest nach Festrand. «
»Nein. Das war Saxby. Er hat dich draußen auf der Veranda gesehen und ist zur Polizei gegangen, ohne mir etwas davon zu sagen. Ich habe es erst erfahren, als es zu spät war.« Sie sprach jetzt leiser. »Ich wollte dir helfen. Wirklich. Ich will es immer noch.«
Er starrte aus dem Fenster. Sie befanden sich im fünften Stock. Es gab nichts zu sehen außer toten Wolken an einem toten Himmel. »Ich bin müde«, sagte er nach einer Pause.
Sie wollte ihm sagen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte, dass sie sich um ihn kümmern und ihren Vater zu seiner Unterstützung holen würde, und auch David Fortunoff – der hatte gute Beziehungen in Savannah –, aber sie konnte es nicht. Sie war verlegen. Er sah fürchterlich aus. Der Polizist beobachtete sie. »Okay«, sagte sie und erhob sich vom Stuhl, »ich verstehe. Ist schon gut. Ich komme morgen wieder, in Ordnung?«
Er sah zu ihr auf, hob mühsam die Hand vom Laken und spreizte die Finger in einer Abschiedsgeste. »Ich jetzt sage auf Wiedersehen.«
In diesem Augenblick stieg in ihr ein Gefühl für ihn auf, eine plötzliche, spürbare Ausschüttung hormoneller Drüsen, und sie beugte sich vor, um mit den Lippen seine Wange zu berühren, Polizist hin oder her. »Bis morgen dann«, sagte sie.
Er gab keine Antwort.
DIE STADT DER BRÜDERLICHEN LIEBE
Die Träume handelten von Dingen, die er sich nicht eingestehen konnte, Träume von Qual und Entsetzen und Hass. Sie übermannten ihn, als er in einem körperlosen Reich dahintrieb, wo ihn grelle Farben blendeten und Gesichter unvermittelt und zusammenhanglos ineinander übergingen. Und ein Zischen, immer ein Zischen, wie Luft, die aus einer verletzten Lunge entweicht. Er sah, wie Chiba zu Wakabayashi wurde, wie Wakabayashi zu Unagi wurde, und er spürte die Schläge all dieser Hände. Er sah seine Mutter am Grunde des Teichs, ihre zerschundenen Hände, ihr verzerrtes Grinsen, und das Zischen wurde zum Schrei, lautlos und lang gezogen. Er sah Ruth, und ihr Gesicht war das Gesicht seiner Häscher und Peiniger, in ihren Augen brannte derselbe Hass. Und dann sah er sich selbst, und er lag auf dem Grund des toten, schwarzen, endlosen amerikanischen Sumpfes, mit weiß verfärbter Haut, die sich ablöste, mit dem Fleisch von den Knochen fiel, und dann stieg er auf, von sich selbst losgelöst, über sie alle hinweg stieg er auf zum zitternden, wässrigen Licht der Oberfläche.
Er tauchte in einem Krankenhauszimmer bei hellem Tageslicht auf. Über ihm schwebte eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit, die durch einen Schlauch in seinen Arm hineinträufelte. Er versuchte, den Arm zu heben, stellte aber fest, dass es nicht ging. An der Tür stand ein Mann, eine Langnase in Uniform. Eine Schwester – sie war Negerin – beugte sich über ihn. »Na endlich«, sagte sie. »Fühlen Sie sich besser?«
Besser? Er fühlte nichts, überhaupt nichts. Er war vom Krokodil verschlungen worden und hatte in dessen Bauch gelebt. Er blickte die Krankenschwester an und sah das grinsende Maul, den gezackten Schwanz, und die Augen fielen ihm zu und die Träume
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