Der Sand der Zeit
sterben.«
»Ja«, sagte der Ase einfach, als rede er über eine Belanglo-sigkeit, nicht über das Ende eines ganzen Volksstammes.
»Aztlan wird untergehen. Noch heute.«
»Und das Volk der Olmeken auch.«
»Es wird geschehen, weil es geschehen ist«, sagte Odin geheimnisvoll. »Du hast einen Blick in die Vergangenheit getan. Es steht nicht in deiner Macht, sie zu ändern. Tätest du es, würdest du deine eigene Zukunft zerstören.«
Ich schwieg sekundenlang. In meinem Hals saß plötzlich ein bitterer, harter Kloß. »Ich habe keine … keine sehr gute Figur dabei abgegeben, wie?« fragte ich.
Diesmal lachte Odin. »Doch«, sagte er. »Das hast du.«
»Aber wenn das, was geschehen ist, sowieso nicht geändert werden kann, wieso hast du mich dann hierhergeschickt?«
fragte ich verwirrt.
Odin lachte erneut. »Damit es geschehen konnte«, sagte er.
»Versuche nicht, das Wesen der Zeit wirklich zu verstehen.
Niemand kann das. Nicht einmal wir.«
Ich blickte zurück in die Richtung, aus der die Geräusche der Schlacht kamen. Erickson war tot, aber die Bewohner Aztlans nicht. Und sie würden sich mit der verzweifelten Kraft von Wesen wehren, die nichts zu verlieren haben, denn mit dem Tod ihres Herrn war ihnen der Rückweg in ihre eigene Welt versperrt. Ich schauderte.
»Deine Aufgabe ist erfüllt«, sagte Odin. »Leif Erickson hat für den Verrat bezahlt, den er beging. Du kannst zurückkehren in deine Zeit.«
Er trat zur Seite, hob die Hand und winkte mich zu sich heran. Sein ausgestreckter Arm wies auf das Meer hinaus, und plötzlich war die Wasseroberfläche nicht mehr leer: Der Nebel bewegte sich. Schatten bildeten sich hinter der bro-delnden grauen Wand, flossen auseinander und ballten sich neu zusammen, gewannen an Masse und Festigkeit und wurden zu deutlichen Umrissen. Ein riesiger, aus Holz geschnitzter Drachenkopf schob sich aus dem Nebel, wurde zum hoch hinaufgezogenen Bugspriet eines Schiffes, eines gewaltigen, gold- und silberglänzenden Wikingerbootes, das sich lautlos der Küste näherte.
»Skidbladnir«, sagte Odin. »Mein Schiff, das auf dem Zeit-strom schwimmt. Es wird dich nach Hause bringen.«
»Werden wir uns wiedersehen?« fragte ich.
Odin schüttelte mit einem bedauernden Lächeln den Kopf.
»Kaum. Nur wenigen Sterblichen ist es vergönnt, die Götter zu sehen. Einmal ist genug für ein Leben.«
Ich wollte noch etwas sagen, ihm eine Million Fragen stellen, all die Fragen, die Menschen zu allen Zeiten an die Götter gerichtet hatten, ohne je eine Antwort zu erhalten.
Aber ich tat es nicht. Statt dessen drehte ich mich nach einer Weile herum und ging wortlos auf das wartende Skidbladnir zu.
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