Der Sarg: Psychothriller
Fälle gab, bei denen man in Gräbern seltsam verkrümmte Skelette fand. Särge, deren Deckel von innen mit bloßen Fingernägeln zerkratzt worden waren. Hatte man sie etwa auch lebendig begraben? Lagen über ihr mehr als eineinhalb Meter Erde? Nein, nein, das konnte doch nicht … das … Sie musste hier raus, sofort. »Nein!« Sie kreischte förmlich. » NEIN !« Sie mobilisierte all ihre Kräfte, drehte sich auf den Rücken, begann mit beiden Fäusten in die Schwärze hinein wie besessen gegen den Deckel über sich zu hämmern. Sie schrie so laut, dass sie das Gefühl hatte, ihre Lunge müsste platzen. Es war ihr egal, nur raus, nur raus, weiter hämmern, schreien, schreien. Plötzlich kippte sie nach hinten weg, sie …
Sie öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder zusammen. Die gleißende Helligkeit schmerzte. Aber warum? Wo kam diese Helligkeit plötzlich her? Das dumpfe Gefühl der Angst hatte sie noch immer fest im Griff. Vorsichtig hob sie die Lider, ein kleines Stück nur. Die Kommode, der Schrank, das Fenster … diese Helligkeit … sie war so wundervoll. Aber wie war das möglich? Gerade noch … der Sarg … begraben … ein Traum.
Sie hatte einen fürchterlichen Traum gehabt. Nur einen Traum.
Eva war derart erleichtert, dass sie kurz auflachte. Sie lag in ihrem Bett, sie lag wirklich in ihrem Bett, und alles war gut. Mehr noch, alles war phantastisch. Sie kuschelte sich tief in ihre Bettdecke, zog die Knie an und drückte einen Bettzipfel gegen ihre Wange. Da lag sie nun, eine siebenunddreißigjährige Frau, Inhaberin der Rossbach Maschinenbaubetriebe, zusammengerollt wie ein Baby, und war überglücklich, dass sie sich nicht lebendig begraben in einem Sarg befand, sondern nach einem bösen Albtraum zu Hause in ihrem Bett. Dass es ihr gutging. Besser sogar als sonst oft beim Aufwachen.
Ihr Blick fiel auf den Radiowecker. Zehn vor neun, so lange hatte sie ewig nicht mehr geschlafen. Sie würde jetzt aufstehen und sich einen Kaffee machen. Mit einem Ruck schlug sie die Bettdecke zurück und hielt im nächsten Moment inne. Ihr Arm schmerzte, und nicht nur der. Ihr ganzer Körper tat ihr weh, besonders die Hände. Wieso merkte sie das erst jetzt? War die Erleichterung gerade beim Erwachen so groß gewesen, dass sie alles andere überdeckt hatte? Aber … wo kamen diese Schmerzen her?
Vorsichtig richtete Eva sich auf und schob die Decke ganz zurück. Dabei fuhr ihr erneut ein stechender Schmerz in ihr Handgelenk und den Ellbogen. Sie drehte den rechten Arm und entdeckte rötliche Flecken, die sich über die Handkante bis hin zu den Fingerknochen zogen. Sie drehte den Arm ein Stück weiter. Der Ellbogen war ebenfalls gerötet. Der linke Arm sah nicht besser aus, und auch das linke Knie war rot. Sie bewegte die Füße. Die Fußgelenke schmerzten, und sogar die Zehen taten weh.
Wo hatte sie diese Verletzungen her? Hatte sie die schon am Abend gehabt, als sie ins Bett gegangen war? Aber wann war sie überhaupt ins Bett gegangen? Und wie? Sie konnte sich nicht erinnern. Wieder einmal. Aber dieses Mal war es anders,
so
hatte sie es noch nie erlebt. Dieser furchtbare Traum … Eva stand auf, zog ihren Morgenmantel von der Stuhllehne vor der Kommode und stieß einen Schmerzenslaut aus, als sie die Schulter nach hinten drückte und den Arm hob, um in den seidenen Ärmel schlüpfen zu können. Der ganze Körper tat ihr weh.
Langsam ging sie in die Küche und machte sich einen Kaffee. Mit der Tasse in der Hand stellte sie sich vor das Küchenfenster und starrte nach draußen. Es war neblig an diesem Morgen. Vereinzelt stachen die nackten Äste der Bäume kalt glänzend aus dem Grau hervor wie skelettierte Finger, die nach ihr greifen wollten. Die abgeworfenen Blätter bildeten großflächige, faulende Teppiche rund um die Stämme. Ihr Garten, der im Sommer mit seiner tausendfachen Farbenpracht ihre Sinne streichelte, in dem sie sich in jeder freien Minute aufhielt, kam ihr fremd vor, abweisend und feindlich.
Eva war verwirrt, es fiel ihr schwer, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. Sie konnte sich an jede Einzelheit dieses
Traums
erinnern, er war ihr so real erschienen, dass sie noch immer die Ausläufer der Panik spürte. Und doch – es konnte nur ein Traum gewesen sein. Schließlich war sie in ihrem Bett wach geworden und nicht in einem Sarg, fast zwei Meter unter der Erde.
Und die Verletzungen?
Eva stellte die Kaffeetasse auf der Arbeitsplatte ab und betrachtete wieder die roten
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