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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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hohe
Lufttemperatur. Jim, der gerade ein Stativbein eingestellt
hatte, tupfte sich die Stirn und dachte an nichts
Bestimmtes, als er Bellmann und Lady Mary um die
Ecke biegen sah. Er schaute auf--- und ihm war, als hätte
ihn ein Hammerschlag getroffen. Lady Mary. Sie war so
vollkommen, dass er es kaum glauben mochte.
Liebreizend war nicht das richtige Wort, schön auch
nicht --- er kam sich vor wie ein Blatt, das der Sturm
davonwirbelte, so hilflos fühlte er sich, und über beide
Ohren verliebt. Der Eindruck war ganz körperlich, seine
Knie zitterten, und er musste sich anstrengen, das Atmen
nicht zu vergessen. Er fragte sich, mit dem Rest von
Verstand, der ihm noch geblieben war, wie es Bellmann
nur fertig brachte, hier gelassen zu stehen und zu reden,
während ihre Hand auf seinem Arm lag. Als ob das gar
nichts bedeuten würde! Sie trug Weiß, und ihr Haar war
schwarz und seidig, die Wangen gerötet, die Augen groß
und verhangen... Beinahe hätte er laut geseufzt. Wie im
Traum bewegte sich Jim automatisch dorthin, wo Mr.
Protherough es ihm gesagt hatte, reichte Frederick eine
Platte, bog dann einen Palmwedel beiseite, rückte den
Korbsessel näher an den Goldfischteich und richtete
einen weißen Reflektorschirm gerade so aus, dass mehr
Licht auf die Schattenseite ihres Gesichts fiel. Die ganze
Zeit über sprach er im Innern leidenschaftlich mit ihr und
horchte mit scheuer Freude auf die Antworten, die er ihr
in den Mund legte...
Bellmann zählte nicht, er war wie Luft. Sie und den da
heiraten? Lächerlich. Unmöglich. Ein Blick genügte, um
das zu erkennen. Wie sie neben ihm saß, stolz,
abgesondert, vor sich hin träumend --- und wie diese
schlanken, zierlichen Finger ein Fetzchen Moos von
ihrem Kleid nahmen und ins Wasser beförderten - wie
sich ihr Nacken spannte, da unter dem rosa Ohr, wo sich
ein paar Locken mutwillig kräuselten... Um Jim war es
geschehen.
Um ihn herum ging die Porträtsitzung ungestört weiter.
Mr. Protherough steckte den Kopf unter das schwarze
Tuch der Kamera, belichtete die Platte und kam wieder
hervor. Frederick gab ihm eine neue Platte und nahm die
belichtete in Empfang, während Lord Wytham diskret im
Hintergrund blieb und dann fortging. Charles überblickte
alles mit der Gelassenheit eines Gutsbesitzers, der seinen
Wildhütern bei der Arbeit zusah. Alles in allem wurden
ein Dutzend Aufnahmen gemacht, darunter auch eine, auf
der Lady Mary allein zu sehen war, wofür Jim im Stillen
dankte. Als sie mit der Arbeit schon fast fertig waren,
beugte sich Frederick vor und flüsterte zu Jim: »Vorsicht,
Jim. Du starrst Löcher in die Luft. « »Herrje!«, stöhnte
Jim und drehte sich zu Mr. Protherough, um ihm die
letzte Platte zu geben. Zum Abschluss sollte das
Verlobungspaar im Stehen neben der Statue einer antiken
Göttin aufgenommen werden, doch Charles machte den
Vorschlag, Lady Mary solle lieber sitzen. Die
Komposition würde dadurch harmonischer, sagte er, und
Mr. Protherough stimmte ihm zu.
»Bringen Sie doch den Korbsessel, Mr. Sanders«, sagte
Charles zu Frederick, da Jim gerade Mr. Protherough
half, das Kamerastativ in eine andere Stellung zu
bringen. Frederick holte den Sessel, der neben dem
Goldfischteich stand, und stellte ihn neben die Statue.
Plötzlich bemerkte Jim, dass eine Stille eingetreten war.
Er blickte auf und sah, wie Bellmann Frederick am Arm
fasste und ihm ins Gesicht sah. Frederick blickte erstaunt
zurück. Oh pass auf, Fred, dachte Jim, er hat dich
durchschaut... »Sagen Sie«, begann Bellmann (und alle
waren auf einmal still, auch Mr. Protherough), »waren
Sie nicht letzte Woche im Haus von Lady Harborough?«
»Ich, Sir?«, gab Frederick in betont sanftem Tonfall
zurück. »Oh nein, gewiss nicht. «
»So ganz unauffällig unter den Gästen?«, fuhr Bellmann
mit einer gewissen Schärfe fort.
»Als Gast in Lady Harboroughs Haus? Nein, nein, Sir.
Soll ich den Sessel auf diese Seite stellen oder auf die
andere?« »Letzte Woche«, bohrte Bellmann weiter, »war
ein Mann, der ihr Doppelgänger gewesen sein muss,
wenn Sie selbst es nicht waren, auf Lady Harboroughs
Wohltätigkeitsempfang. Dieser Mann beobachtete die
anderen Gäste in einer, wie es mir schien, verdächtigen
Weise. Ich frage Sie noch einmal: Waren Sie das?« Ehe
Frederick antworten konnte, schaltete sich Lady Mary
ein. »Sie vergessen«, sagte sie zu Bellmann, »dass auch
ich auf dem Empfang war. Ich habe den Mann gesehen,
den Sie meinen, aber es ist nicht dieser Herr hier. «
»Wenn ich

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